© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/10 20. August 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Radikalisierung
Karl Heinzen

Der Rat der Europäischen Union empfiehlt den 27 Mitgliedstaaten den Aufbau „eines standardisierten, multidemonsionierten und semistrukturierten Instruments zur Erfassung von Daten und Informationen über die Radikalisierungsprozesse“, die in nahezu allen Ländern zu beobachten sind. Bestandteil dieser Wissensressource, deren sich Polizeikräfte, Geheimdienste und andere Sicherheitsinstitutionen grenzüberschreitend bedienen könnten, soll auch ein Erfassungsbogen sein, der zu als radikal eingeschätzten Personen 70 Fragen zu ihren politischen Aktivitäten, ihren privaten Lebensverhältnissen sowie ihrem gesellschaftlichen Umfeld erschöpfend beantwortet.

Im Visier sind in erster Linie jene unerfreuliche Phänomene einer freien Gesellschaft, deren Bekämpfung sich diese auch hierzulande verschrieben hat: Rechts- und Linksextremisten, Islamisten, Nationalisten, Separatisten und Globalisierungskritiker. Im Grundsatz ist diese Liste allerdings offen angelegt, da man schließlich vorab nie so recht einzuschätzen vermag, ob eine bislang unbedenkliche politische Strömung plötzlich nicht doch noch einen Radikalisierungsprozeß durchläuft.

Auch wird zwischen „bloß“ radikalen und bereits terroristischen Bestrebungen keine schematische Unterscheidung getroffen. Im Sinne einer verantwortungsvollen und daher vom worst case ausgesehenden Sicherheitsvorsorge wird vielmehr davon ausgegangen, daß die Übergänge hier grundsätzlich fließend sind.

Im Prinzip wird durch dieses Projekt natürlich kein Neuland betreten. Eine Bekämpfung des Extremismus steht in allen EU-Staaten auf der Agenda der Sicherheitsbehörden und nur wenige legen dabei die rechtsstaatliche Zimperlichkeit der Deutschen an den Tag. Da sich Radikale unterdessen aber nahezu europaweit in den Parlamenten tummeln und daher so tun, als verfügten sie über eine demokratische Legitimation, ist ein energischeres und vor allem koordiniertes Vorgehen gegen sie erforderlich.

Die Europäische Union setzt somit zur rechten Zeit ein deutliches Signal, daß ihr an mehr als bloß fiskalischer Stabilität ihrer Mitglieder gelegen ist. Der Aufschrei der Extremisten, wie er etwa in Gestalt einer Kleinen Anfrage der Linken im Bundestag zu vernehmen war, darf ignoriert werden. Wer die Wehrhafte Demokratie bekämpft, kann sich nicht darauf berufen, in Wahrheit nur ihre Prinzipien zu verteidigen. Auch stehen die Grundsätze unserer Verfassungsordnung nicht zur Abstimmung. Sie behielten ihre Gültigkeit, selbst wenn es keinen Parlamentarier mehr gäbe, der sie teilt.

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