© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/10 27. August 2010

„Irritierendes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit“
Dokumentation: Mit einem Offenen Brief wehrt sich das Verwaltungsgericht Hannover gegen Kritik von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse

Mit einem ungewöhnlichen Schritt hat das Verwaltungsgericht Hannover das von ihm verhängte zeitweilige Verbot einer DGB-Kundgebung in Bad Nenndorf verteidigt und sich gegen Kritik von Bundestagsvizepräsident  Wolfgang Thierse (SPD) gewehrt. Der Gerichtspräsident veröffentlichte in der vergangenen Woche einen Offenen Brief (siehe rechts) an Thierse, der dem Gericht unter anderem „juristische Parteinahme“ vorgeworfen hatte.

Hintergrund des Streits ist der „Trauermarsch“ sogenannter „freier Nationalisten“ Anfang August in Bad Nenndorf, mit dem an die Opfer eines britischen Internierungslagers in der Stadt erinnert werden sollte (JF 34/10). Die vom DGB organisierte Gegendemonstration, zu der sich auch zahlreiche gewaltbereite Linksextremisten angekündigt hatten, war vom Verwaltungsgericht Hannover unter anderem mit der Begründung verboten worden, von ihr gehe ein größeres Gefahrenpotential aus als von dem Trauermarsch.

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg revidierte schließlich die Entscheidung der Vorinstanz und ließ beide Kundgebungen zu. Am Rande der Kundgebung wurden mehrere Polizisten verletzt, als Linksextremisten versuchten, den Trauermarsch zu blockieren.

 

Sehr geehrter Herr Thierse,

in einem Spiegel-Online-Bericht vom 13. August 2010 werden Sie zu einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hannover zu dem Verbot einer Demonstration gegen einen Neonazi-Aufmarsch in Bad Nenndorf mit folgenden Worten zitiert:

„Eine solche juristische Parteinahme gegen eine DGB-Versammlung zugunsten einer Neonazi-Versammlung ist angesichts der deutschen Geschichte erschütternd.“

Diese Aussage kann ich nicht unkommentiert lassen. Sie offenbart ein Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, das irritiert und aus meiner Sicht nach einer Antwort verlangt.

Dabei geht es mir nicht um das Recht der Öffentlichkeit, Gerichtsentscheidungen zu kritisieren. Gerichte und Richter müssen sich öffentlicher Kritik stellen. Justizkritik gehört zu unserer Rechtskultur. Es geht mir auch nicht darum, die Entscheidungen der 10. Kammer zu verteidigen. Die Entscheidung ist in richterlicher Unabhängigkeit getroffen worden und von der dafür zuständigen Rechtsmittelinstanz mit dem inzwischen bekannten Ergebnis überprüft worden. Zu der Entscheidung nur so viel: Das Gericht hatte die Rechtmäßigkeit der vom Landkreis Schaumburg ausgesprochenen Verbotsverfügungen zu überprüfen. Es ist nach den ihm vorliegenden Erkenntnissen zu der Einschätzung gelangt, daß die Voraussetzungen des von der Versammlungsbehörde für beide Veranstaltungen geltend gemachten sogen. polizeilichen Notstandes dann nicht vorliegen, wenn nur eine der beiden Kundgebungen stattfindet; folgerichtig hat die Kammer das Verbot beider Veranstaltungen unter Beachtung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit für nicht gerechtfertigt erklärt. Bei der Auswahl ist das Gericht unter Zugrundelegung der ihm vorliegenden polizeilichen Gefahrenprognose zu dem Ergebnis gekommen, das Verbot der DGB-Versammlung sei rechtmäßig.

Sie haben diese Entscheidung als „juristische Parteinahme gegen eine DGB-Versammlung zugunsten einer Neonazi-Versammlung“ gewertet. Darin liegt ein ungeheuerlicher Vorwurf, den ich zurückweisen muß.

Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Einschätzung gelangt sind, kann Ihnen jedoch versichern, daß das Gericht in keiner Weise Partei ergriffen hat. Viele empfinden das gefundene Ergebnis als unbefriedigend. Die Justiz darf aber nicht danach entscheiden, was allgemein als politisch genehm erscheint. Das wäre „angesichts der deutschen Geschichte erschütternd“ und mit den Prinzipien unseres Rechtsstaates nicht vereinbar. Die Verwaltungsjustiz muß effektiven Rechtsschutz gewähren und dabei den Grundrechten – hier dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit – Geltung verschaffen. Der gewaltenteilende Rechtsstaat weist der Justiz als der dritten Staatsgewalt keine politischen Entscheidungen zu. Deshalb darf sie gerade nicht danach urteilen, ob ihr eine Demonstration politisch paßt oder nicht. Die Grundrechte sind bekanntlich unteilbar.

Eine unabhängige Justiz ist eine wichtige rechtsstaatliche Errungenschaft. Es schadet ihrem Ansehen, wenn sie, wie wir es in diesen Tagen erleben, von vielen Seiten mit zum Teil maßloser Kritik und üblen Beschimpfungen überzogen wird. Deshalb bitte ich Sie ganz herzlich, in Zukunft dazu beizutragen, daß die Justiz auch in Zukunft ihre Aufgabe erfüllen kann und in ihrer Funktionsfähigkeit nicht beeinträchtigt wird.

Zu Ihrer Information füge ich für Sie Ablichtungen der entsprechenden Entscheidungen bei.

Ich formuliere diesen Brief als offenen Brief. Er wird auf der Homepage des Verwaltungsgerichts Hannover erscheinen.

In Vertretung Merz-Bender (Vizepräsidentin)

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