© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/10 27. August 2010

Flandern will nicht mehr zahlen
Belgien: Keine Regierungsbildung im Land der EU-Präsidentschaft in Sicht / Politischer Stillstand kann noch Monate andauern / Wallonien auf Hilfen angewiesen
Mina Buts

Sie solle doch schon einmal anfangen, das Ende des Landes vorzubereiten, soll der Chef der nationalkonservativen flämischen Partei N-VA, Bart de Wever, der amtierenden Sozialministerin Laurette Onkelinx zugerufen haben. Die wallonische Sozialistin soll ihm geantwortet haben, daß ihre Partei damit bereits vollauf beschäftigt sei. Dieser Disput, ob er nun stattgefunden hat oder nicht, wurde von den belgischen Medien begierig aufgegriffen, spiegelt er doch einmal mehr die Zerrissenheit des Landes wider, die nach den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni (JF 25/10) erst recht zutage getreten ist. Hinzu kommt, daß Belgien seit Juli die EU-Präsidentschaft innehat.

Nie zuvor haben sich so viele Flamen mit ihrer Stimme für N-VA, Vlaams Belang oder Liste Dedecker (LDD) zur weiteren Regionalisierung bis hin zur Teilung des Königreichs bekannt. Gleichzeitig haben aber die Wallonen ebenso deutlich für einen Fortbestand des Status quo gestimmt. Es spricht für sich, daß auch zweieinhalb Monate nach den Wahlen die Koalitionsverhandlungen noch nicht einmal begonnen haben, geschweige denn eine Regierungsbildung in Sicht wäre – im Gegenteil. Vergangene Woche waren die vorsichtig geführten Sondierungsgespräche zwischen den beiden Wahlsiegern Bart de Wever und dem Chef der wallonischen Sozialisten (PS), Elio di Rupo, erneut ins Stocken geraten, als der N-VA-Chef das Finanzgesetz, das den Finanzausgleich zwischen den beiden Landesteilen und der Hauptstadt Brüssel regelt, in Frage stellte.

Mit dieser Forderung, so die wallonische Seite, habe er den Bogen überspannt. Denn mit der bereits erfolgten Zustimmung, die Zuständigkeiten sowohl für das Kindergeld, das Gesundheitswesen, die Arbeitsmarktpolitik als auch für Teile des Steuerwesens künftig an die beiden Landesteile zu übertragen – immerhin ein Finanzvolumen von 16 Milliarden Euro –, hatten die Wallonen aus ihrer Sicht bereits größtmögliche Zugeständnisse an die flämische Seite gemacht. Der belgische König mußte einmal mehr als Schlichter dienen und bestellte – auf Drängen di Rupos – nicht nur die beiden Streithähne, sondern gleich auch die übrigen Vertreter der für eine Regierungsbildung vorgesehenen Parteien ein. Neben den flämischen Sozialisten (S.PA) sind dies auch die wallonischen (CDH) und flämischen Christdemokraten (CD&V) und die Grünen aus den beiden Landesteilen.

Finanztransfers von zehn Milliarden Euro jährlich

Doch der Burgfriede, zu dem Albert II. die Vertreter der Parteien ermahnt hatte, hielt nur kurz. Denn Bart de Wever legte noch in der gleichen Woche nach und forderte die finanzielle Autonomie beider Landesteile – eine für die Wallonen nicht akzeptable Forderung, die nach ihrer Auffassung der Auflösung des Staates gleichkommt. Immerhin unterstützt der reichere flämische Landesteil den wallonischen mit mehr als zehn Milliarden Euro jährlich, ohne diese Finanztransfers wäre Wallonien wirtschaftlich nicht überlebensfähig. Dem selbstbewußten de Wever wird von den großen französischsprachigen Zeitungen, Le Soir und La Libre Belgique, nun vorgeworfen, mit seinen unakzeptablen und auch immer weitergehenden Forderungen das Scheitern der Sondierungsverhandlungen zu provozieren.

In der Tat spielt de Wever mit dem Feuer, aber er hat dabei – anders als die Wallonen – nichts zu verlieren. Mittlerweile wird er sogar vom CD&V-Chef Wouter Beke (der die völlige Neufassung des Finanzierungsgesetzes fordert) und S.PA-Präsidentin Caroline Gennez unterstützt.

Der einzige Trumpf, den die Wallonen in der Hand haben, ist die stark französisierte Hauptstadt und EU-Metropole Brüssel, die wie eine Enklave mitten in Flandern liegt und von den Flamen zwar als Hauptstadt reklamiert, aber nur noch zu sieben Prozent von Flamen bewohnt wird. Die wallonische Forderung, wegen der weiteren Französisierung Brüssels müsse ein neuer Finanzausgleich für die Stadt verbunden mit einer jährlichen Zahlung von 500 Millionen Euro aus Flandern her, ist da natürlich eine Provokation – zumal der umstrittene Wahlkreis Brüssel–Halle–Vilvoorde (der einzige, in dem sowohl flämische als auch wallonische Parteien gewählt werden können) entgegen allen Forderungen und Versprechungen immer noch nicht geteilt ist.

Immerhin war es der Streit um BHV, der die letzte Regierung von Premier Yves Leterme (CD&V) zu Fall brachte. Doch auch hierfür hat di Rupo bereits einen Vorschlag: Der Wahlkreis solle endlich geteilt werden, die drei wallonischen Bürgermeister, die in den flämischen Gemeinden Wezembeek-Oppem, Kraainem und Linkebeek 2007 gewählt, aber bis heute nicht ernannt worden sind, sollen zwar nicht vereidigt, aber in ihre Amtsgeschäfte eingesetzt werden. Damit wäre dann wieder ein typisch belgischer Kompromiß geschaffen.

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