© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/10 27. August 2010

Pankraz,
M. Zuckerberg und das öffentliche Private

Landauf, landab klagt man (Stichwort: Google) über den Verlust der Privatsphäre durch den Einbruch der Öffentlichkeit. Dabei droht genau das Gegenteil: der totale Verlust von Öffentlichkeit durch den flächendeckenden Einbruch der Privatsphäre. Das öffentliche Leben verwandelt sich mit rasender Geschwindigkeit in einen einzigen Privatzoo. Es wird vollgeschüttet mit Daten der allerprivatesten Art, einer  Riesensuppe aus individuellen Zerwürfnissen und Wiederversöhnungen, Hochzeiten und Scheidungen, Stürzen und Fürzen.

Längst sind es nicht nur mehr „Promis“, deren Intimleben den „öffentlichen Diskurs“ behelligt und in Schieflage bringt. Immer ausführlicher meldet sich der sogenannte „kleine Mann“ einschlägig zu Wort und Bild, drängelt sich geradezu mit nichtigsten privaten Details in die Kanäle – und diese lassen sich nur allzu gern mit bloßer Schiebmasse vollstopfen, „stellen Öffentlichkeit her“ für Phänomene, die nie und nimmer in die Öffentlichkeit gehören. Fernsehen und Internet sind zu riesigen Wurstmaschinen geworden, die tagtäglich rein private Belanglosigkeiten in „Vorkommnisse von allgemeinem Interesse“ verwandeln.

Jeder anspruchsvolle Begriff von Öffentlichkeit, wie sie einmal war und auch sein sollte, geht darüber verloren. „Öffentlichkeit“ bedeutet von Haus aus ja keineswegs nur das, was jeder, wenn er will, hören und sehen kann, fast im Gegenteil. Sie war immer das Privileg derer, die sich nicht nur für sich selbst und ihren unmittelbaren Lebenskreis interessierten, sondern für „das Ganze“, also für das verfaßte Gemeinwesen und sein Blühen und Gedeihen, für die Pflichten, die es einem auferlegte, und für die Freiheiten, die es einem gewährte.

Teilhabe an dieser Art von Öffentlichkeit setzte Macht, aber auch Mut, Einfallsreichtum und Entscheidungsfähigkeit voraus. Privatsphäre ihrerseits war nicht der Gegenpol zu dieser Öffentlichkeit, vielmehr ihre Ergänzung und andere Seite. Nur wer in alten, knappen Zeiten Zugang zu Öffentlichkeit im emphatischen, staatsbürgerlichen Sinne hatte, konnte sich auch eine Privatsphäre leisten, also adelige Grundherren, Regierende und ihre geheimen Räte, reiche Bürger, Äbte, gelehrte Mönche usw. Sklaven hatten weder Zugang zur Öffentlichkeit noch Privatsphäre, und nicht besser erging es den Bauern im Mittelalter.

Die meisten mußten sich, wenn sie nicht auf dem Felde arbeiteten, einen einzigen Raum, der gleichzeitig Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche war, miteinander teilen; oft schliefen sogar mehrere Leute zusammen in einem Bett. Und das Gesinde schlief auf Bänken oder Öfen oder manchmal auch im Stall zusammen mit dem Vieh. Auch geboren und gestorben wurde gewissermaßen in einem Bett. Es gab keine Intimitäten, keine Möglichkeit zu momentaner Absonderung, keinen Schutz vor Zugriffen der jeweils Stärkeren. Hier von „Privatsphäre“ zu sprechen, wäre der reine Hohn.

Eine „Privatsphäre für jedermann“ kennt man erst seit Ende des 19. Jahrhunderts; das (englische) Wort dafür, „privacy“, stammt aus dieser Zeit. Es meinte in erster Linie den Raum der bürgerlichen Familie, deren Intimitäten und kleinen Individualrituale und -macken, die nach allgemeiner Überzeugung „nicht in die Öffentlichkeit gehören“. Die „Kulturrevolution“ von 1968 hat dann gründlich mit dieser Sicht aufgeräumt. „Öffentlichkeit herstellen“ war eine ihrer zentralen Kampfparolen, und sie richtete sich primär gegen die Familie und deren Anspruch auf Schutz der Intimität.

Symbol dafür war die ausgehobene Klotür. In den Wohngemeinschaften (WGs) der 68er-Frühzeit wurden bekanntlich die Klotüren ausgehoben, damit alle Genossinnen und Genossen jederzeit voll über die Privatsphäre und das sogenannte Intimleben der Mitgenossinnen und Mitgenossen einschließlich ihrer Babys und Kleinkinder im Bilde wären. Denn „Privatsphäre“ war ein gefährliches bürgerliches Relikt. So hatte es Genosse Wilhelm Reich einst gelehrt, und daran hielt man sich.

Inzwischen muß man keine Türen mehr ausheben, um ins Bild zu kommen bzw. sich ins Bild zu setzen. Man hat ja Bild, will sagen: die Zeitung gleichen Namens, das Fernsehen als machtvolles, bildgebendes Medium und das Internet als eine Plattform, auf der sich buchstäblich jedermann ohne jede Mühe weltweit üppig ins Bild setzen kann. Die 68er-Bewegung, schrieb schon 2007 Bild-Chefredakteur Kai Dieckmann, sei zwar schlimm gewesen, aber sie hätte doch auch ihr Gutes gehabt. „Sie öffnete das Private für die Öffentlichkeit, ermunterte zu Bekenntnissen von Intimitäten und führte zur Boulevardisierung der Politik.“

Noch unmißverständlicher drückte sich kürzlich Marc Zuckerberg aus, der Chef und Gründer von Facebook, jener Internetfirma, welche erfolgreich Kundenadressen sammelt und sie miteinander vernetzt, um daraus Profit zu schlagen. „Die Privatsphäre“, verlautbarte er in einem Interview, „ist ein Relikt aus alten, längst vergangenen Tagen. Privatsphäre und Internet schließen sich gegenseitig aus. Daß das so ist, sieht man an Facebook. Millionen von Menschen in aller Welt tragen sich ein und werden Freunde, die fröhlich intimste Daten austauschen und keine Geheimnisse mehr voreinander haben.“

Der Mann hat zweifellos recht, und er widerlegt damit schneidend das derzeitige medienfüllende Klagen über unerlaubte Datenspeicherungen und hinterhältige Datenverknüpfungen, über „Cookies“, „Zahlenpixel“ und andere Angriffe „auf meine ganz persönlichen Daten“. Solche Angriffe sind von den Angegriffenen alle selbstverschuldet. Wer seine Privatsphäre derart leichtfertig, ja wollüstig und hemmungslos in Öffentlichkeit übergehen läßt, wie das zur Zeit in der westlichen Welt geschieht, der zeigt doch, daß er an der Aufrechterhaltung von Privatsphäre gar nicht wirklich interessiert ist.

Er zerstört sie, und dabei zerstört er eben auch jede gediegene Form von Öffentlichkeit inklusive ihrer noch vorhandenen Repräsentanten und Exekutoren. Das ist die schlimmste Seite der Angelegenheit.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen