© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Ein Mann bewegt Deutschland
Unbequeme Wahrheiten: Thilo Sarrazins plädiert für einen Politikwechsel
Thorsten Hinz

Die Deutschen machen sich Gedanken über das Weltklima in 500 Jahren, spottet Buchautor Thilo Sarrazin, doch die Gefahr ihres physischen Aussterbens bekümmert sie nicht. Darin die alte Melange aus Weltflucht und Gedankentiefe zu sehen, mit der Deutschland die Welt einst verzückte und beängstigte, fällt schwer. Es ist eine Mischung aus Autoaggression und Dekadenz, wobei letztere als die Unfähigkeit zu verstehen ist, sich keine Gedanken über seine Grundlagen mehr zu machen. Sie beschränkt sich nicht auf die Unterschichten, sie prägt die Politik, die Medien, das öffentliche Leben.

„Ich glaube, daß wir ohne einen gesunden Selbstbehauptungswillen als Nation unsere gesellschaftlichen Probleme (...) nicht lösen werden“, meint Sarrazin. Die Alternative wäre die Selbstabschaffung, die er sich gerade vollziehen sieht. In neun Kapiteln seines an diesem Montag offiziell vorgestellten Buches „Deutschland schafft sich ab“ analysiert er die demographischen Verschiebungen, die Alterung, die quantitativen und qualitativen Veränderungen der Bevölkerung. Er kritisiert den Sozialstaat, der den Unterschichten fatale Anreize bietet, sich in den Umständen einzurichten und ihren Lebensunterhalt mittels Kinderreichtum zu bestreiten. Das führt zur äußeren und inneren Verwahrlosung der Betroffenen und ihrer Kinder und macht sie unfähig, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen.

Weiterhin analysiert Sarrazin die Qualität, die Struktur und den kulturellen Hintergrund der Zuwanderer. Ein Problem stellen nur die Muslime dar, die bereits in den Heimatländern überwiegend zu den Unterschichten gehörten. In Deutschland behalten sie ihren Status bei, allerdings unter den komfortablen Bedingungen des deutschen Sozialstaates, dessen Segnungen inklusive Kindergeld ihnen ebenfalls zugute kommen. Das vergrößert und verschärft das Unterschichtenproblem und führt zunehmend zu kulturell-religiösen Konflikten, die die Gesellschaft zu sprengen drohen. Die Kritiker, die Sarrazin vorwerfen, er spalte mit seiner Darstellung das Land, bestätigen ungewollt seinen Befund.

Die Lektüre ist wegen der Fülle der Zahlen und der kompakten Argumentation nicht ganz leicht. Kaum ein Fakt oder aufgezeigter Zusammenhang ist wirklich neu. Ungewöhnlich aber ist, daß ein Elite-Vertreter ein „deutsches Gesellschaftprogramm“ zu erkennen meint, das „auf die Abschaffung der Deutschen hinausläuft“. Die deutsche Nettoreproduktionsrate liegt bei 0,61, das heißt, jede Generation ist um 39 Prozent kleiner als die vorherige. In Japan und Italien, den zwei anderen Weltkriegsverlierern, ist sie ähnlich gering.

„Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist“

Deutschland muß, wenn es seinen Wohlstand und letztlich seine Existenz behaupten will, den technologischen, ökonomischen und den Qualifikationsvorsprung verteidigen. Dem steht der  Rückgang elementarer Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten der Schulabgänger entgegen. Im internationalen Vergleich fällt auf, daß die besten Schülerleistungen in Ländern erbracht werden, die sich von Zuwanderung freihielten oder – im Unterschied zu Deutschland – hohe Ansprüche an sie stellten. Nun kommt hinzu, daß sich ausgerechnet die am wenigsten gebildeten Bevölkerungsgruppen, vom Sozialstaat ermuntert, als die gebärfreudigsten erweisen. Wie wenig deutsche Journalisten dem Thema gewachsen sind, erläutert Sarrazin anhand des Buches „Aufstand der Unterschicht“ der FAZ-Journalistin Inge Kloepfer, der er bescheinigt, eher gefühlsbetont als analytisch vorgegangen zu sein. So erkläre sie „Kinder recht pauschal zum Armutsrisiko, ohne zu untersuchen, warum Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und ohne stabile Einbindung in den Arbeitsmarkt tendenziell mehr Kinder haben“.

Mit dieser Entwicklung steigt der Anteil des Unterschichten-Nachwuchses in einer ohnehin schrumpfenden und alternden Bevölkerung. Beides führt zu immer höheren Belastungen der Mittelschichten. Von den Muslimen in Deutschland bestreiten nur ein Drittel ihren Lebensunterhalt aus einem Arbeitseinkommen. Im Bevölkerungsdurchschnitt sind es 43 Prozent, wobei zu beachten ist, daß die deutsche Bevölkerung im Durchschnitt älter und ihr Anteil an Altersrentnern deshalb höher ist. Auf 100 muslimische Erwerbstätige entfallen 43,6 Arbeitslosengeld- und Hartz-IV-Empfänger, während bei den Deutschen das Verhältnis bei 100 zu 10,4 liegt. Noch ungünstiger sehen die Zahlen bei den 480.000 in Deutschland lebenden Afrikanern aus, von denen mehr als die Hälfte von Transferleistungen lebt. Zwischen Deutschen und EU-Ausländern sind hingegen keine nennenswerten Differenzen festzustellen.

Sarrazins Forderung: „Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist!“, die hysterische Biologismus-Vorwürfe auslöste, ist vernünftig. Im Unterschied zu seinen Kritikern kennt Sarrazin sich in der einschlägigen Literatur über Intelligenzforschung (etwa von Siegfried Lehrl, Richard Lynn, Heiner Rindermann, Tatu Vanhanen) sehr gut aus. Lange Passagen lesen sich als Aktualisierung des Buches „Die IQ-Falle“ des  Leipziger Bevölkerungswissenschaftlers Volkmar Weiss (vergl: „Programm für den Abstieg“, JF 51/06). Ihre Forschungsergebnisse lassen die Hoffnung, die Lücken an intelligentem Nachwuchs ließen sich durch gezielte Förderung der Unterschichten ausgleichen, als fahrlässig und naiv erscheinen.

„Verharmlosung, Selbsttäuschung, Problemleugnung“

Sarrazin wirft einen Blick auf die DDR, wo talentierte Kinder aus den unteren sozialen Schichten sich tatsächlich voll entfalten konnten. (Im Gegenzug war allerdings das Bildungsbürgertum außer Landes getrieben worden.) 1954 betrug der Anteil der Arbeiterkinder unter den Studenten 48 Prozent – um 1989  auf sieben bis zehn Prozent zu sinken. Warum diese für einen Arbeiter-und-Bauernstaat überraschende Entwicklung? Ganz einfach: Das intellektuelle Reservoir dieser Schichten hatte sich erschöpft.

Sarrazin stellt den Vorgang sehr verkürzt dar, was seine Darstellung angreifbar macht. Der Ablauf war dieser: Der Bauernsohn, der es zum Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten gebracht hatte, heiratete nicht mehr die Sandkastenfreundin vom Nachbarhof, die sich weiter im Kuhstall nützlich machte, sondern das kluge Arbeitermädchen, das ein Lehrerstudium absolvierte. Dieses Ehepaar zählte nun zur Intelligenz und brachte in aller Regel auch die intelligenteren Kinder hervor, so daß der Anteil der DDR-Studenten aus der Intelligenzschicht 1989 bei 78 Prozent lag!

Die DDR war eine sehr egalitäre Gesellschaft, wo der Arzt Tür an Tür mit dem Maurer wohnte, wo Kindergarten, Ganztagsbetreuung, langes gemeinsames Lernen, individelle Förderung durch  Lernpatenschaften – kurzum alles, was heute als Wundermittel für eine Bildungsrevolution unter muslimischen Zuwanderern und Unterschichtlern gepriesen wird, obligatorisch war.

Wenn sich trotzdem eine neue soziale Schichtung mit signifikanten Intelligenz-Unterschieden entwickelte, dann mußte das wenigstens teilweise – die berühmten 50 bis 80 Prozent – auf genetische Unterschiede zurückzuführen sein. Im Widerspruch zu ihrer Ideologie setzte die DDR die Erkenntnisse ihrer Intelligenzforscher – die natürlich nicht so heißen durften – in eine qualitative Bevölkerungspolitik um, indem sie zum Beispiel den Kinderwunsch von Studenten und Akademikern gezielt unterstützte und förderte. So gesehen ist die heutige BRD viel ideologieversessener als der Ulbricht- und Honecker-Staat.

Hier arbeiten „ein Heer von Integrationsbeauftragten, Islamforschern, Soziologen, Politologen, Verbandsvertretern und eine Schar von naiven Politikern Hand in Hand und intensiv an Verharmlosung, Selbsttäuschung und Problemleugnung.“ Es sind parasitäre Subsysteme, die sich um die Fehlentwicklung gebildet haben und in denen diese sich spiegelt. Die wütenden Reaktionen aus Politik, Medien und Wissenschaft erscheinen unter diesen Umständen geradezu moderat.

Der spröde Zahlenmensch Sarrazin schreibt erstaunlich viel von Kultur und kultureller Identität. Er möchte, daß seine „Nachfahren in 50 und auch in 100 Jahren noch in einem Deutschland leben, in dem die Verkehrssprache Deutsch ist und die Menschen sich als Deutsche fühlen (...).“

Da werden Kauf und Lektüre seines Buches direkt zu Akten des Widerstands!

Polit-Bestseller des Jahres Bereits am Dienstag waren laut Angaben der Deutschen Verlagsanstalt die ersten drei Auflagen in einer Gesamthöhe von 70.000 Exemplaren verkauft beziehungsweise vorbestellt. Die 4. Auflage (80.000 Stück) soll am kommenden Montag ausgeliefert werden.

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Deutsche Verlagsanstalt, München 2010, gebunden, 463 Seiten, 22,99 Euro

Foto: Thilo Sarrazin mit Aktenmappe: Der spröde Zahlenmensch schreibt erstaunlich viel von Kultur

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