© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Deutsche Klage gegen Polen
Hochwasserschutz: Deutsche wurden über Dammbruch zu spät informiert / Görlitzer Oberbürgermeister zieht vor Gericht
Paul Leonhard

Ein Dammbruch am Wittig-Stausee bei Nieda (Niedów) hat am ersten Augustwochenende Teile der Grenzstadt Görlitz und des Umlandes unter Wasser gesetzt. Der polnische Staudammbetreiber informierte über den Schaden zwar eigene Stellen, nicht aber den deutschen Katastrophenschutz. Jetzt stellte der Görlitzer Oberbürgermeister Joachim Paulick gegen das polnische Staatsunternehmen Turów Strafanzeige.

Der Dammbruch kündigte sich bereits Stunden zuvor an

Dieses habe durch die zu späte Information über den Dammbruch die Hochwasserlage in Görlitz erheblich verschärft und wissentlich Gefahren für Leib und Leben der Görlitzer in Kauf genommen. Außerdem sei das Unternehmen auch für die entstandenen Sachschäden verantwortlich. Aufklärung verlangt auch der Görlitzer Bundestagsabgeordnete und sächsische CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer: So ein Staudamm breche nicht einfach zusammen. Experten bestätigen, ein Dammbruch kündige sich bereits Stunden zuvor an.

Es ist Sonnabend, der 7. August, gegen 18.20 Uhr, als Rafał Gronicz, Bürgermeister der polnischen Oststadt von Görlitz (Zgorzelec), die Anwohner der sich entlang des Grenzflusses Neiße ziehenden Daszyńskiego-Straße einen nach dem anderen aufsucht. Sie sollten umgehend ihre Geschäfte und Kneipen ausräumen. Der 17 Kilometer entfernte Witka-Staudamm sei gebrochen. Auf der ohnehin schon Hochwasser führenden Neiße werde eine Flutwelle erwartet. Hektisch beginnen die polnischen Anwohner, ihr Hab und Gut in höhere Stockwerke zu schaffen. Auf deutscher Seite findet weiterhin das Internationale Straßentheaterfest statt. Zwar wurden die am Neißeufer geplanten Aufführungen wegen des erwarteten Hochwassers verlegt, aber man rechnet lediglich mit dem Wasser aus der bei Zittau über die Ufer getretenen Mandau. Über den um 18 Uhr erfolgten Dammbruch hat den deutschen Katastrophenstab niemand informiert. Allerdings wundern sich Anwohner, daß auf der polnischen Uferseite Laster Sand heranfahren und Hunderte von Sandsäcken gestapelt werden.

Als die reißenden Fluten eintreffen und sich auf beiden Seiten der Grenze dramatische Rettungsaktionen ablaufen, ist man schockiert. Innerhalb von drei Stunden steigt der Pegelstand der Neiße in Görlitz um vier Meter auf mehr als sieben Meter, der höchste Wert seit Beginn der Messungen 1912. Der Oberbürgermeister läßt vorsorglich den Strom für mehrere tausend Haushalte abstellen, auch die Stadtwerke müssen die Wassergewinnung einstellen.

Das Ausmaß der Flut sei nicht vorhersehbar gewesen, sagt Innenminister Markus Ulbig (CDU) und versichert, daß das „Krisenmanagement gut funktioniert“ habe. Eine glatte Lüge, zumindest wenn damit die gepriesene Zusammenarbeit im Dreiländereck gemeint ist. Denn die grenzüberschreitende Information hat überhaupt nicht funktioniert. Kein politisch Verantwortlicher hat daran gedacht, die deutschen Nachbarn vor der sich anbahnenden Katastrophe zu warnen.

Der polnische Bürgermeister ist nicht einmal auf die Idee gekommen, seinen Görlitzer Amtskollegen per Handy über den Dammbruch zu informieren. Er sei davon ausgegangen, daß das zentral erfolge, entschuldigte sich Gronicz später. Erst gegen 19.30 Uhr schwante den Verantwortlichen im Landeshochwasserzentrum, daß in Polen irgend etwas passiert sein mußte. Zu diesem Zeitpunkt lag zwar vom Wittig-Stausee nicht die Meldung eines Dammbruchs vor, aber die mitgeteilten Abflußmengen von 650 Kubikmetern in der Sekunde ließen nur diese Schlußfolgerung zu.

Wiederaufbau des Damms in vernünftiger Qualität?

Die Katastrophe hat mehrere Ursachsen. Der 48 Jahre alte Stausee am Flüßchen Wittig (Witka) dient als Wasserbehälter für das Braunkohlegroßkraftwerk Turów, ein polnisches Energieunternehmen in Staatsbesitz auf dem Gebiet der einst sächsischen Gemeinde Reichenau (Bogatynia). Der See faßt bis zu 5,5 Millionen Kubikmeter Wasser, verfügt aber über kein Rückhaltebecken und ist für einen maximalen Durchfluß von 500 Kubikmetern pro Sekunde ausgelegt. Am 7. August füllt sich das Becken ab 14 Uhr mit Wassermassen, die aus der Tschechei unkontrolliert abfließen. Vier Stunden später bricht der 300 Meter lange, 15 Meter hohe Damm.

Der Bruch löst auf deutscher Seite nicht einmal große Verwunderung aus. Die Staumauer sei ein „Pannenbauwerk“, läßt sich CDU-General Kretschmer zitieren. Schon bei früheren Hochwassern habe es hier Probleme gegeben. Nachdrücklich forderte der Christdemokrat von Polen einen „Wiederaufbau in vernünftiger Qualität“, sonst bleibe der Damm ein „Risiko für alle in der Region“. Auch Sachsens Umweltminister Frank Kupfer (CDU) hat offenbar kein Vertrauen.

Er werde sich beim Vize-Marschall der Woiwodschaft Niederschlesien dafür einsetzen, daß der „Staudamm standsicher“ wiederaufgebaut wird. Überdies will er erreichen, daß zwischen Sachsen und der polnischen Nachbarregion Niederschlesien künftig ein „direkter Draht für Hochwassermeldungen entstehe“ und die Warnungen nicht mehr wie bisher über Warschau und Frankfurt an der Oder laufen.

Der Kraftwerksbetreiber PGE Elektrownia Turów hat jegliche Schuld von sich gewesen. Auch die von sächsischen Regierungsstellen angekündigte Vor-Ort-Begehung einer deutsch-polnischen Expertengruppe ist nach Radioberichten ausgefallen. Auf polnischer Seite ermittelt derzeit die Kreisstaatsanwaltschaft, wer Schuld am Dammbruch trägt.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen