© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Unangenehme deutsche Widerständler
Uwe Johnsons literarisches Projekt über die DDR-Fluchthelfer fiel 1964 bei Siegfried Unseld in Ungnade / Nach 46 Jahren holt Suhrkamp einiges nach
Matthias Bath

Der Schriftsteller Uwe Johnson (1934–1984) hat sich in seinen Werken wie kaum ein anderer auf höchstem literarischen Niveau dem zweigeteilten Deutschland zugewandt. Nachdem seine Verlobte Elisabeth Schmidt 1962 von Fluchthelfern mit einem falschen Paß aus der DDR in den Westen geschleust worden war, waren die Fluchthelfer für Johnson nicht nur Helfer in der Not, sondern zugleich auch ein faszinierendes literarisches Sujet. So führte er um die Jahreswende 1963/64 mehrere Tonbandinterviews mit Pionieren der organisierten Fluchthilfe. Nachdem Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld 1964 jedoch das Projekt eines der Fluchthilfe gewidmeten Buches abgelehnt hatte, galten die verschollenen Tonbänder als gelöscht. Tatsächlich blieb das Band mit den Interviews mit Detlef Girrmann und Dieter Thieme, den Begründern der studentischen Fluchthilfe an der Freien Universität im Westteil Berlins, erhalten. Der Text dieser beiden Interviews ist nunmehr, 46 Jahre später, doch noch bei Suhrkamp erschienen.

Die spröden, umgangssprachlichen Niederschriften sind mühevoll zu lesen und erschließen sich dem Leser nur schwer. Gleichwohl enthalten sie für den Fachkundigen sensationelle Informationen über die allerersten Anfänge organisierter Fluchthilfe unmittelbar nach dem 13. August 1961. Dabei ist organisierte Fluchthilfe für den Helfern persönlich nicht nahestehende Menschen abzugrenzen von Akten persönlich bedingter oder rein spontaner Fluchthilfe, die wohl schon am 13. August selbst einsetzten.

Detlef Girrmann war 1961 Leiter des Sozialreferats im Studentenwerk der Freien Universität. Von hier aus wurden etwa 500 FU-Studenten, die im Ostteil Berlins oder im zur DDR gehörigen Berliner Umland wohnten, materiell unterstützt. Diese Studenten sahen sich durch die Sperrmaßnahmen des 13. August buchstäblich über Nacht von ihrer Hochschule und damit von ihrer bisherigen Lebensplanung abgeschnitten. Zudem war ihr weiterer Lebensweg völlig ungewiß.

Am Morgen des 14. August 1961 saßen Girrmann und Thieme in einem Büro des Studentenwerks und überlegten, wie sie diesen Studenten helfen könnten. Dies war die Geburtsstunde der organisierten Fluchthilfe. Nur wenige Tage später kamen die ersten studentischen Flüchtlinge mit ihrer Hilfe nach West-Berlin. Anfangs genügte schon ein West-Berliner Personalausweis, dessen Bild dem Flüchtling ähnlich sah, zur Flucht. Angesichts zunehmend verfeinerter Grenzkontrollen der DDR mußte dann aber der Aufwand zur Realisierung erfolgreicher Fluchtvorhaben ebenfalls immer weiter gesteigert werden.

Die Interviews von 1963/64 kreisen vor allem um die Frage, warum Männer wie Girrmann und Thieme ihre Freiheit, ihr Leben und ihre berufliche Existenz aufs Spiel setzten, um anderen, ihnen persönlich völlig unbekannten Menschen zu helfen. Zumindest für Girrmann und Thieme ist die Antwort verblüffend einfach. Beide stammten aus dem Gebiet der späteren DDR und leisteten dort angesichts ihrer Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus ab 1948 gegen den ähnlich gearteten Machtanspruch der Kommunisten gemeinsam Widerstand. Als ihre Gruppe 1950 enttarnt wurde, konnte Girrmann nach West-Berlin flüchten. Thieme wurde verhaftet und mußte zwei Jahre in Gefängnissen der DDR verbringen. Nach seiner Haftentlassung flüchtete er ebenfalls nach West-Berlin, um hier sein Jurastudium aufzunehmen. Beide identifizierten sich in hohem Maße mit ihren in der DDR zurückgebliebenen Landsleuten und wollten diese in der durch den Mauerbau entstandenen Notlage nicht allein lassen.

Später, als die ersten Fluchthilfevorhaben scheiterten und der erforderliche Aufwand immer größer wurde, differenzierten sich ihre Motive etwas. Während Girrmann jenseits von Ideologien und Politik in erster Linie der altruistische Helfer blieb, allein die Notlage der Menschen im Blick, sah Thieme sein Handeln nun zunehmend als Kampf gegen das DDR-Regime und politischen Widerstand an. Als sich die Mißerfolge bei Fluchthilfeunternehmen häuften, zogen sich beide 1964 aus dieser Tätigkeit zurück.

Das Buch wird abgerundet durch persönliche Vorworte Girrmanns und Thiemes, der kurz nach Erscheinen des Buches im Juli 2010 verstorben ist, Johnsons 1965 erstmalig veröffentlichte Fluchthilfeerzählung „Eine Kneipe geht verloren“ und ein Nachwort des Fluchthelfers Burkhart Veigel, der die Herausgabe der Tonbandprotokolle als Buch betrieben hat.

Einen Dank offizieller Stellen haben Girrmann und Thieme, ungeachtet ihrer Verdienste um die Freiheit im geteilten Deutschland, nie erfahren. Wäre das wiedervereinigte Deutschland wirklich schon bei sich angekommen, würde man nach Männern wie ihnen als späte Anerkennung Straßen und Plätze benennen.

Uwe Johnson: Ich wollte keine Frage ausgelassen haben. Gespräche mit Fluchthelfern. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, gebunden, 247 Seiten, 22,80 Euro

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