© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

„Töte mich nicht!“
Auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner einer geistigen Identität Europas
Harald Seubert

Europa ist, wenn es denn mehr ist als ein geographischer Begriff, mit Einsicht, Vernunft und Dialog verbunden. Rémi Brague sprach von seiner „exzentrischen Identität“. Der Andere und das Andere gehören daher zur geistigen Identität Europas; und das eben nicht nur im Gegenblick auf die nicht-europäische Welt, sondern vor allem durch eine innere Negativität und Unruhe. Anders als die islamische Kultur hat Europa die Quintessenz anderer Kulturen aufgesogen, zugleich aber seine eigenen Möglichkeiten bis ins äußerste genutzt.

Der Versicherung und Befragung dieser Identität widmete sich eine denkwürdige Tagung, die im vergangenen Juni unter internationaler Beteiligung am Lehrstuhl für Religionsphilosophie in Dresden in Kooperation mit der Prager Karls-Universität und der Universität Krakau unter Leitung von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und Hans-Rainer Sepp stattfand. Nun sind die Tagungsakten, mustergültig ediert, erschienen. Der Band entfaltet ein substantielles Gespräch über Europa, das von drei Denkern ausgeht, die im Malstrom des 20. Jahrhunderts Europa dachten und – mehr als viele Deklarationen – einen Horizont seiner künftigen Gestalt umreißen können: die Jüdin, Phänomenologin und Husserl-Schülerin Edith Stein, im Vernichtungslager Auschwitz umgekommen, von Papst Johannes Paul II. zur Heiligen erhoben; dann der große jüdische Denker der Alterität, Emmanuel Lévinas; und schließlich Józef Tischner, der Priester und Beichtvater der Solidarność in Polen.

Die Aufsätze loten differenziert das Vermächtnis dieser Geister aus. So wird deutlich, wie tief schon die junge Edith Stein im Zusammenhang des Problems der „Einfühlung“, dem ihre Dissertation galt, Freiheit und Interpersonalität dachte. Sie wußte dabei aber auch um das Andere im Selbst, und sie sah den Zusammenhang zwischen freier menschlicher Handlung und Anerkenntnis. Sehr zu Recht konnte Johannes Paul II. Edith Stein als Patronin Europas ausrufen, denn ihr Denken enthält Anhaltspunkte, um den Nationalstaat mit föderalen und transnationalen Momenten zu verbinden, die weit über ein bloß ökonomisches Europa hinausgehen.

Nicht zu vernachlässigen ist es, daß sowohl Stein als auch Lévinas in der Spannung von Glaube und Vernunft denken. Lévinas wollte das jüdische Erbe des einzelnen Menschen, des bedrohten Individuums, das die griechische Metaphysik nicht denke, in sie hinein übersetzen. Das Prinzip des Humanismus des Anderen, in dem das Absolute in dem Appell begegnet: „Töte mich nicht!“, ist zugleich Grundsatz der Nicht-Indifferenz, die sich jeder Vereinnahmung in Allgemeinbegriffen entzieht. Dies hat, wie René Kaufmann zeigt, auch politische Konsequenzen. Es bedeutet, daß der Gemeinsinn aus dem Sinn für den anderen resultiert, den Staat aller erst ethisch legitimiert und ihm zugleich Grenzen setzt. Bemerkenswert ist, daß sich ein Beitrag der Dimension der Elternschaft zu wendet.

Der polnische Philosoph und Priester Józef Tischner führt mit seiner „Dramatischen Philosophie“ die Lévinas’sche Begegnung im Kontext des polnischen Aufbegehrens gegen den Staatsapparat weiter. Wahrheit und Lüge gewinnen in seinem Werk ihren moralischen Sinn zurück, den Nietzsche zu destruieren suchte. Arbeit kann als Begegnung, als sich eröffnender Raum von Möglichkeiten wieder ihren Sinn gewinnen. Tischner begreift als Beginn aller Erfahrung die Einsicht, daß die Welt nicht ist, wie sie sein soll. Dieser Wunsch klärt und vertieft sich in der Begegnung in einer „Agathologie“, einer Mitteilung des Guten, die von dem wechselseitigen Wunsch ausgeht, bewahrt zu werden.

In einem klärenden Sachgespräch versammeln sich hier prominente Philosophen ebenso wie Nachwuchsforscher aus ganz Europa, nach Barbara Gerl-Falkovitz’ Worten: die jungen Adler, die zum Flug ansetzen. Und sie fliegen schon erstaunlich hoch und zielsicher. Alle Studien, auf die leider nicht im Detail hingewiesen werden kann, verdienen genaue Lektüre. Am Anfang steht ein subtiler phänomenologischer Prolog von Walter Schweidler: „Der andere als Grund und Grenze des Denkens“, am Ende eine Betrachtung von Hans Rainer Sepp über Europa und die Alterität: zwei herausragende Studien, die den Einzelforschungen einen sachlichen Rahmen geben. 

Glanzvoll wird deutlich, wie wichtig eine philosophische Europa-Forschung, für die hier ein gewichtiger Beitrag geleistet wird, angesichts der Ermüdung und des Sinn-Niedergangs Europas ist. In unterschiedlichen Lebenswelten können die drei ausgewählten Denker dafür exemplarisch sein: Ihr Leben und Denken setzt sich einer oft quälenden Realität aus und wurzelt zugleich im Absoluten. Gerade aus solcher Herkunft kann europäische Zukunft resultieren.

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, René Kaufmann und Hans-Rainer Sepp (Hrsg.): Europa und seine Anderen. Emmanuel Lévinas, Edith Stein, Józef Tischner. Thelem Verlag, Dresden 2010, broschiert, 414 Seiten, 49,80 Euro

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