© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Gene sind kein Schicksal
Epigenetik: Eine junge Wissenschaft liefert überraschende Einsichten in das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Erbgut und Umwelt
Daniel Körtel

Seit der Formulierung der Synthetischen Evolutionstheorie in den 1940er Jahren galt in der Biologie der dogmatische Grundsatz, daß auf die genetische Ebene nichts anderes hineinwirkt als Mutation und Selektion. Zufällige Mutationen im Genotyp bewirken Änderungen in der phänotypischen Erscheinungsform, die sich unter den gegebenen Umweltbedingungen zu bewähren haben und erst danach in die nächste Generation weitervererbt werden. Auf diesem vordergründig simplen Prozeß fußt das Theoriegebäude der Evolution. Ein Einfluß der Umwelt selbst auf die genetische Ebene wurde hingegen kategorisch ausgeschlossen.

Ablagerungen wirken sich auf die DNA-Stränge aus

Jedoch sind Dogmen problematisch in den Naturwissenschaften, wo gegenwärtige Erkenntnisse bis zum Beweis ihres Gegenteils nur vorläufige Gültigkeit haben. Denn seit der im Jahr 2000 euphorisch gefeierten Entschlüsselung des menschlichen DNA-Codes zeigt sich, daß sich das Verständnis genetischer Abläufe nicht mit der Kenntnis des Informationsgehalts der DNA erschöpft. Statt dessen offenbart sich nun ein faszinierender Einblick in biochemische Mechanismen, über die Umwelteinflüsse in genetische Steuerungsprozesse eingreifen können, ohne direkt die im Erbgut hinterlegten Informationen zu verändern. Epigenetik (griechisch epi: nach) ist der Name des noch sehr jungen Wissenschaftszweigs der Biologie, der die hierbei zugrunde liegenden Mechanismen aufklärt. Zu ihnen gehört die Methylierung, bei der die Zelle durch Anlagerung von einfachen Kohlenwasserstoffgruppen an bestimmte DNA-Bereiche ganze Gensequenzen deaktiviert, so daß diese keine Proteine mehr codieren können. Der Grad der Methylierung nimmt mit der Lebensdauer des Organismus zu, ist individuell angelegt und unterscheidet sich selbst bei eineiigen Zwillingen mit identischer DNA.

Neben der Methylierung wurden mit der Histonmodifikation und der RNA-Interferenz noch zwei weitere Mechanismen der Genregulierung identifiziert. Histone sind Verpackungshilfen, an denen sich der zwei Meter lange DNA-Faden platzsparend im Zellkern aufrollt. Derart aufgerollte DNA-Abschnitte können keine Proteine mehr codieren, jedoch kann die feste Anheftung an die Histone durch Anlagerung chemischer Gruppen aufgelockert werden. Bei der RNA-Interferenz setzt die Zelle Boten-RNA, über die die Proteinbauanleitung eines Gen transkribiert wird, durch spiegelbildliche Partner aus Micro-RNA außer Gefecht, so daß sich beide wie gleichartige überlappende Wellenberge auf einer Wasseroberfläche auslöschen.

Über eine internationale epidemiologische Studie konnten nun die epigenetischen Faktoren aufgedeckt werden, die in den Ausbruch der Multiplen Sklerose (MS) involviert sind. MS ist eine schwere Erkrankung, bei der das Nervensystem schubweise von der körpereigenen Immunabwehr zerstört wird. Erst das Zusammenspiel von Vitamin D mit dem genetischen Risikofaktor für MS erklärt, warum die Krankheit nicht bei allen ihren Trägern ausbricht. Vitamin D ist vor allem in Fischöl enthalten und wird durch die Sonneneinstrahlung in der Haut gebildet. Offenbar blockiert während der Embryonalentwicklung des Organismus eine ausreichende Versorgung von Vitamin D die Aktivität des Risikogens. Damit erklären sich auch die geographischen und jahreszeitlichen Verteilungen von MS-Erkrankungen.

Doch die Epigenetik bietet auch Zündstoff über den Einfluß des Sozialverhaltens auf die Entwicklung eines Organismus. Tierversuche an Rattenpopulationen belegen, daß die Streßresistenz des Nachwuchses durch eine liebevolle Aufzuchtpflege vorprogrammiert wird. Die Erfahrung der Vernachlässigung durch das Muttertier spiegelt sich nicht nur in einer höheren Streßempfindlichkeit des Nachwuchses wider, sondern korreliert auch mit einem höheren Methylierungsgrad in jenen Genregionen der Zellen seines Hippocampus, in denen die Dämpfung des Streßhormons Cortisol reguliert wird. Inwieweit diese Ergebnisse auch auf den Menschen übertragbar sind, ist noch offen. Aber analoge Schlußfolgerungen dürften zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs verwegen sein.

Der Lebenswandels kann sich auf die Gene auswirken

Indizien deuten darauf hin, daß manche epigenetischen Programmierungen sogar in die nächsten Generationen vererbt werden können. Statistische Auswertungen des Einwohnerregisters der schwedischen Ortschaft Överkalix über die Jahrgänge des 19. Jahrhunderts ergaben einen hoch signifikanten, aber paradoxen Zusammenhang: Je üppiger die Nahrungsversorgung der Großväter in ihrer präpubertären Phase war, um so niedriger war die Lebenserwartung ihrer männlichen Enkel. Anscheinend zahlten sie die Zeche für die Schlemmerei ihrer Großväter in den guten Jahren.

Der Fortschritt der Epigenetik stellt bisherige Vorstellungen genetischer Steuerungsvorgänge und ihrer Wechselwirkungen mit der Umwelt vor eine revolutionäre Neuorientierung und bringt Schub in die ewige Debatte über die Anteile von Genen und Umwelt an der Prägung des Menschen. Sie stärkt die Eigenverantwortung des Menschen und hebt den Wert der gesundheitlichen Vorsorge. Sein Schicksal steht eben nicht unabänderlich in seinen Genen geschrieben. Zum beträchtlichen Teil beeinträchtigt die Gestaltung seines Lebenswandels nicht nur sein eigenes Wohlergehen, sondern auch das seiner Kinder. Die reduktionistische Vorstellung vom Menschen als sklavische Hülle seines Genoms, die der Evolutionsbiologe Richard Dawkins in seiner Metapher vom „egoistischen Gen“ zum Weltbild erhoben beziehungsweise popularisiert hat, dürfte damit endgültig passé sein.

Foto: Die DNA im direkten Einfluß des Lebensumfelds: Bisherige Vorstellungen genetischer Steuerungsvorgänge und ihrer Wechselwirkungen mit der Umwelt stehen vor einer revolutionären Neuorientierung

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