© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

„Wähler werden immer wählerischer“
Grundlegende sozialwissenschaftliche Untersuchungen in der DFG-Förderung
Claus Schäfer

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gibt mehr Geld aus:  nicht nur dort, wo man hofft, es möge sich als Investition in den Industriestandort Deutschland langfristig „rechnen“, in den Natur- und Ingenieurswissenschaften, sondern auch in den Geisteswissenschaften. Im Milliardenetat der DFG stieg deren Anteil von 2006 bis 2009 kräftig von 127 auf 240 Millionen Euro an. Allein die benachbarten Sozial- und Verhaltenswissenschaften stagnieren, denn nach einem kräftigen Schluck aus der Pulle (2007) erhielten die Soziologen, Politologen, Pädagogen und Ethnologen 2009 nur noch 126 Millionen – weniger als 2008 (129). Manfred Nießen, DFG-Gruppenleiter Geistes- und Sozialwissenschaften, würde diesen Förderungsknick keinesfalls damit erklären, daß es auf diesem Sektor an Mut zum Neuen, an innovativer Kraft und unbequem-schöpferischer Phantasie fehle. Und doch drängt sich bei der Lektüre des DFG-Jahresberichts 2009 dieser Eindruck auf, wenn man die Präsentation laufender sozialwissenschaftlicher Forschungsprojekte studiert.

Der ihnen gemeinsame Nenner sei, daß „grundlegende, gesellschaftlich höchst relevante Fragen“ gestellt würden. Allerdings liefert der DFG-Report die Zweifel an der Relevanz gleich mit, wenn es zur Untersuchung der Essener Pädagogikprofessorin Jeanette Böhme über „Schulraum und Schulkultur“ heißt, die Antworten lägen „scheinbar schon auf dem Tisch“. Von „scheinbar“ zu „anscheinend“ ist hier die Grenze fließend, denn Böhmes These über einen Zusammenhang zwischen den „örtlichen Gegebenheiten“ des „Schulraums“ und den Unterrichtserfolgen dürfte jedermann evident sein. Daß desolate Klassenzimmer und bröckelnde Schulbauten Lehrer und Schüler eher demotivieren, kann man sich gleichfalls vorstellen, ohne wie Böhme darüber drei Jahre forschen zu müssen. Von Neuigkeitswert könnte daher allenfalls die von ihr zugleich angepeilte Antwort auf die Frage sein, was die Schule als „geschlossener Raum“ überhaupt noch in globalisierungsbedingter Konkurrenz zu außerschulischen Lern- und Bildungsräumen der „vernetzten Welt“ leisten könne.

Forschung auf Tonga über  US-Lebens- und Denkweisen

„Auf dem Tisch“ liegen für den gesunden Menschenverstand auch die Resultate, die der Mannheimer Politologe und Wahlforscher Rüdiger Schmitt-Beck im fernen 2018 in seiner „Deutschen Longitudinalen Wahlstudie“ veröffentlichen wird. Er selbst nimmt die zentrale Aussage heute schon vorweg, wenn er konstatiert, was jedem Zeitungsleser auffallen muß: Der „elektorale Prozeß“ hierzulande gewinne an Dynamik, sei einem „tiefgreifenden Wandel“ unterworfen. Alte Stabilitäten, jahrzentelange Bindungen sozialer Gruppen an bestimmte Parteien lösten sich auf, der Wähler werde wählerischer.

Ähnlich Sensationelles stellt die Zeithistorikerin Isabel Heinemann in Aussicht. Nachdem ihre brav positivistische Freiburger Dissertation über das SS-Rasse- und Siedlunghauptamt mit einer Münsteraner Juniorprofessur belohnt wurde, möchte sie sich nun „thematisch breiter aufstellen“ und sich dem „familiären Wertewandel“ in den USA zwischen 1890 und 1990 widmen. Hier bestehe eine von ihr reklamierte „Lücke in der deutschen Forschung“ – nicht aber in der US-Soziologie und Sozialgeschichte. Deren Antworten müßte Heinemann bis 2013 einfach nur ins Deutsche übersetzen – und fertig ist die Laube.

Die Freiburger Psychologin Andrea Bender verlegt derart überraschungsresistentes Forschen wenigstens in ein tropisches Paradies, ins pazifische Königreich Tonga. Dort unter Palmen, wo vielleicht Kollegen aus Auckland oder Melbourne preiswerter arbeiten, will sie dem Einfluß „US-amerikanischer Lebens- und Denkweisen“ auf die Kultur und Kognition der Insulaner nachspüren, die sich, wer hätte das gedacht, „von Generation zu Generation“ veränderten.

Ebenfalls nicht umwerfend – aber, da die Probanden im heimischen Dresden leben, die steuergeldbespülte DFG-Kasse schonend – verspricht Frank Nestmann (TU Dresden), „gesundheitsfördernde Effekte tiergestützter Interventionen bei Demenzkranken“ heller auszuleuchten. Zwar hätten Einzelstudien schon bestätigt, daß der Umgang mit Tieren das Wohlbefinden von Alzheimer-Patienten steigere, aber es fehle eben noch eine „systematische wissenschaftliche Untersuchung“.

Da Nestmann aber dafür keine teuren Flugtickets berechnet, sind im laufenden Etat vielleicht noch ein paar Euro für eine wirklich innovative Mikrostudie übrig, die Vorschläge zur stilistischen Verbesserung der DFG-Jahresberichte erarbeitet – insbesondere dazu, wie die Redakteure von ihrer Vernarrtheit in „Fokus“ und „vor Ort“ zu heilen sind.

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