© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

„Das ist ein riesengroßer Fehler“
Aufstand der Basis: Der von der Parteiführung betriebene Rauswurf Thilo Sarrazins droht für die SPD zu einer Zerreißprobe zu werden
Ronald Gläser

Der Samstag war ein bißchen frustrierend für Johannes Kahrs. Der Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete hatte mit seinen Genossen auf einem Straßenfest einen Stand aufgebaut. Aber die Passanten schimpften meistens nur mit ihm wegen des geplanten Sarrazin-Rauswurfs. „Der hat doch recht“, mußte sich Kahrs anhören.

Die SPD hat sich selbst unnötig in Schwierigkeiten gebracht. Tausende von empörten Briefen und E-Mails seien bereits in der Parteizentrale eingetroffen, heißt es. Daß diese Nachricht durchgesickert ist, beweist, daß die Empörung unglaublich groß sein muß. Wahrscheinlich viel größer als die Partei zugibt. Ein Protest, der sich nicht mehr unter den Teppich kehren läßt. Und auch öffentlich melden sich einfache SPD-Genossen kritisch zu Wort, zum Beispiel auf dem Fest der Charlottenburger SPD.

Dort befragte ein ARD-Kamerateam etliche Besucher. Es fielen Sätze wie: „Ich weiß, daß Klaus Wowereit gerne einen Parteiausschluß möchte. Ich weiß nicht, ob das die richtige Lösung ist.“ Oder: „Das ist ein riesengroßer Fehler. Man darf Querdenker nicht ausschließen.“ Und: „Der hat sich ein bißchen im Ton vergriffen, aber sonst hat er ditt jesacht, wat die Leute denken.“  Auch die Internetforen sind voll mit entsprechenden Wortmeldungen. „Selbst ich als SPD-Mitglied muß sagen: Sarrazin hat recht, nur in Deutschland darf man solche Themen nicht ansprechen, ohne gleich in der rassistischen oder neonationalistischen Ecke zu landen“, schreibt ein gefrusteter Genosse auf Spiegel Online. Der SPD, so lautet die Botschaft, geht ein Teil ihrer Anhänger von der Fahne, wenn sie Sarrazin rauswirft.

Schon vor der Veröffentlichung des Buches am 30. August war die Meinung in den Parteigremien eindeutig: Sarrazin muß weg. Endlich keine Provokationen mehr, endlich klare Verhältnisse. Just in dem Moment, als der frühere Berliner Finanzsenator in Berlin Mitte sein Buch vorstellte, tagte genau 2,7 Kilometer entfernt das SPD-Präsidium im Willy-Brandt-Haus und beschloß, den Querulanten aus der Partei zu werfen. Sarrazin erfuhr es von Journalisten auf seiner Pressekonferenz. Das Ausschlußverfahren war ein Schnellschuß, den sich die Genossen lieber zweimal überlegt hätten. Inzwischen rudern einige prominente Sozialdemokraten wieder zurück. Dennoch leitete am Montag auch der Berliner Landesvorstand einstimmig ein Parteiordnungsverfahren gegen Sarrazin ein.

Der Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, hat von Anfang gegen den Rausschmiß Sarrazins das Wort ergriffen. Noch deutlicher wurde Sarrazins langjähriger Senatskollege Ehrhart Körting. Der Berliner Innensenator legt seinem Genossen zwar den Austritt nahe, kritisierte aber den Umgang mit ihm. In einem Interview mit n-tv sagte er: „Die Art und Weise, wie man jetzt, nach den Fehlern, die er gemacht hat, eine Hexenjagd auf ihn macht, finde ich schon problematisch.“ Der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi schließlich hat angekündigt, Sarrazin vor dem Schiedsgericht verteidigen zu wollen. Das Verhalten seiner Partei sei völlig unentschuldbar, sagte Dohnanyi dem Deutschlandfunk. Sarrazin sei weder Rassist noch Ausländerfeind und habe auch nichts geschrieben, was einen Ausschluß rechtfertigen würde.

Der frühere SPD-Politiker Wolfgang Clement, gegen den einst selbst ein Parteiausschlußverfahren lief und der später aus der Partei austrat, geht mit der SPD hart ins Gericht. Es sei erschreckend, daß der Vorstand einstimmig die Einleitung eines Parteiordnungsverfahrens gegen Sarrazin beschlossen habe, bevor vermutlich auch nur ein Vorstandsmitglied dessen Buch überhaupt gelesen habe, sagte Clement dem Internetportal Legal Tribune Online. Die Entscheidung sei offensichtlich allein aufgrund der öffentlichen Diskussion und der Lektüre von ein oder zwei Interview-Sätzen gefallen. Mit Sarrazin hätte dagegen vermutlich niemand gesprochen. „Ein solcher Umgang mit einem Mitglied ist einer Partei, die sich ihres Ranges und ihrer Verantwortung bewußt ist, unwürdig“, kritisierte Clement.

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