© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Das letzte Aufgebot
Geschichtspolitik: Der Bund der Vertriebenen steht zunehmend vor ernsthaften strukturellen und inhaltlichen Problemen
Bernhard Knapstein

Gut 65 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und dem erzwungenen Exodus von Millionen Deutschen aus Ostmitteleuropa sind die deutschen Heimatvertriebenen noch immer als Schicksalsgemeinschaften im Dachverband Bund der Vertriebenen (BdV) organisiert und über ihre Präsidentin Erika Steinbach öffentlich wahrnehmbar. Der jährlich ausgerichtete „Tag der Heimat“ ist stets ein Medienereignis. Steinbach konnte in den vergangenen Jahren zudem für die Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ zahlreiche Persönlichkeiten als Unterstützer gewinnen.

Trotz solch beachtlicher Erfolge wächst im Verband die Sorge um die Zukunftsfähigkeit einer Institution, deren finanzielle und personelle Ressourcen deutlich ausdünnen. Beobachter gehen davon aus, daß vor dem Hintergrund schwindender Kräfte der praktisch verlorene Kampf um das Zentrum gegen Vertreibungen „die letzte große Schlacht der Vertriebenen“ gewesen ist.

Tatsächlich gelten mehrere BdV-Landesverbände und Landsmannschaften bereits als gänzlich bedeutungslos. Waren in den fünfziger und sechziger Jahren noch führende Politiker und Persönlichkeiten aus den Vertreibungsgebieten in den Vorständen der Landsmannschaften und Kreisgemeinschaften, die den westdeutschen Patenländern und Patenkreisen gleichberechtigt begegnen konnten, so sind heute weitgehend Vorsitzende der dritten oder sogar vierten Generation im Amt, denen die politische Reputation und Strahlkraft fehlt, um der deutschen oder osteuropäischen Politik auf Augenhöhe zu begegnen. Landsmannschaften wie die für Ostbrandenburg oder Weichsel-Warthe sind inzwischen kleiner als mancher kleinstädtische Sportverein. Viele Kreis- und Ortsverbände lösen sich auf oder existieren nur noch auf dem Papier. Die vom BdV verbreitete Mitgliederzahl von 2,5 Millionen wird selbst von Funktionären als „bei weiter Auslegung eher am oberen Rand“ bezeichnet. Der Verband ist zudem noch von öffentlichen Zuschüssen abhängig, die immer weniger fließen. Rücklagen haben nur wenige Gliederungen gebildet und viele erheben keine oder nur unerhebliche Mitgliedsbeiträge. Die Finanzierung mehrerer BdV-Mitgliedsverbände erfolgt noch heute von oben nach unten. Eine Umkehr haben nur wenige Organisationen geschafft. Auch das Spendenaufkommen nimmt naturgemäß ab. Und so paßt es ins Bild, daß BdV-Mitgliedsverbände ihre kostenpflichtigen Stimmanteile beim Dachverband reduziert oder ganz aufgegeben haben. Das Ansinnen erfolgreicher Heimatkreise wie Preußisch Holland (Ostpr.), als neue eigenständige und vor allem als zahlende Mitglieder dem Dachverband beizutreten, hat das Präsidium des Verbandes abgelehnt.

Das langsame Wegbrechen der BdV-Strukturen hat eine dramatische Folge: Der über Jahrzehnte in Deutschland währende Konsens der staatlichen Solidarität mit den deutschen Heimatvertriebenen in Form von Patenschaften löst sich auf. Zahlreiche Patenschaften deutscher Städte und Kreise für ostdeutsche Heimatkreise ruhen mittlerweile. Der Landkreis Hannover etwa, der noch vor wenigen Jahren mit der Stadt Burgdorf ein Förderer der ostpreußischen Kreisgemeinschaft Heiligenbeil war, hat die Patenschaft vor kurzem aufgekündigt. Bis dahin war es bei den Kommunen üblich, Patenschaften zu ostdeutschen Heimatkreisen, die man nicht mehr ernst nahm, lediglich im Sande verlaufen zu lassen. Den Vertriebenen fehle es an Persönlichkeiten mit Reputation und politischer Durchsetzungskraft, erklärt ein Experte diese Entwicklung. Viele Kreisvertreter würden von der Politik zudem schlichtweg nicht ernst genommen.

Derzeit ragen alleine die Sudetendeutschen und die Rußlanddeutschen aus dem BdV deutlich heraus. Die einen, da sie in fetten Jahren Kapital aufbauen konnten, mit dessen Erträgen sie heute gut wirtschaften können, die anderen schon aufgrund der Masse ihrer Klientel und der Integrationsproblematik.

Das öffentliche Interesse am historischen deutschen Osten ist zwar seit Mitte der neunziger Jahre neu geweckt worden.  Dokumentarfilme von Klaus Bednarz oder Wolf von Lojewski über Ostpreußen, zahllose Heimatreportagen in den Printmedien, Vertriebenen-Biographien in den Buchläden sowie Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ zur Versenkung der Wilhelm Gustloff  haben dem Tabuthema Ostgebiete und Vertreibung Öffentlichkeit verschafft. Alles erscheint heute möglich.

Aber dem Bund der Vertriebenen ist es dennoch nicht gelungen, neue Weichen zu stellen. Alle Kräfte des Dachverbands waren auf die Durchsetzung des Zentrums gegen Vertreibungen ausgerichtet. Strukturelle Reformen blieben aus und die Diskussion inhaltlicher Fragen wie die schwierige Gestaltung des Verständigungsprozesses mit den damaligen EU-Aspiranten Polen und Tschechien blieben den Landsmannschaften mit ihren jeweiligen Partikularinteressen vorbehalten.

BdV-Organisationen, die sich eher über das Recht auf Heimat und die Restituierungs- beziehungsweise Entschädigungsfragen definieren, stoßen auf allgemeine Ablehnung und sogar auf den blanken Haß von Linksextremisten. Vertriebeneninstitutionen, die sich demgegenüber stärker im Verständigungsprozeß und bei der Bewahrung des kulturellen Erbes engagieren, treffen im Osten auf neue Partner, denn in den historischen deutschen Siedlungsgebieten mit sichtbarer deutscher Bausubstanz und deutscher Minderheit fließt das Bewußtsein der Jugend, auf Boden mit deutschen Wurzeln zu leben, in das eigene Identitätsgefühl ganz selbstverständlich mit ein. Und so werden in Zukunft wohl nur einige wenige Vertriebenenorganisationen mit struktureller und inhaltlicher Substanz in Deutschland und Europa Akzente setzen.

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