© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Mehr Knete
Entgrenzung: In Frankreichs Vorstädten, den Banlieues, offenbart sich die Logik des Kapitalismus
Alain de Benoist

In der Fünfziger-Jahre-Komödie „Papa, Maman, La Bonne et Moi“ von Jean-Paul Le Chanois besingt der Kabarettist Robert Lamoureux die französischen Vorstädte als „Paradies der glücklichen Menschen“: „Banlieues, banlieues, le paradis des gens heureux“, lautet der Refrain. Lieder von Jacques Prévert und René Fallet ebenso wie die Fotografien von Edouard Boubat und Robert Doisneau bezeugen, daß die Vorstadt-Welt damals noch in Ordnung war, daß die „einfachen Leute“ einander halfen und unterstützten.

Ein halbes Jahrhundert später gelten dieselben Banlieues als Synonym der Hölle, wo nur noch die Hoffnungslosen und „Überflüssigen“ leben, die Opfer und ohnmächtigen Zeugen. Sie haben sich in Mülldeponien verwandelt, wo alles entsorgt wird, was die spätkapitalistische Gesellschaft in ihren Schlafstädten für höhere Führungskräfte und trendige Neo-Kleinbürger nicht sehen will.

Dank der Einwanderung vermag die Rechte das Banlieue-Problem auf seine ethnische, die Linke auf seine soziale Dimension zu reduzieren. In Wirklichkeit sind diese beiden Aspekte untrennbar miteinander verknüpft, aber die eigentliche Problematik geht weit darüber hinaus. Erklärungen, die von einer „Kultur der Ausreden“ ausgehen, greifen ebenso zu kurz wie die überzogenen Ängste vor der „Islamisierung“.

Auch darf man die Gemeinschaft im soziologischen Sinn nicht mit der Gemeinschaft im politischen Sinn verwechseln. Es ist ein Irrtum anzunehmen, daß die Bevölkerung der Banlieues aus organisierten „Gemeinschaften“ besteht; eher stellt sie sich als Karawanserei willkürlich zusammengemischter Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen dar. Diese lassen sich auch nicht manichäisch in Diskriminierte und Diskriminierende, Täter und Opfer unterscheiden. Mit Überwachung und Kontrolle vermeintlich „gefährlicher Gesellschaftsschichten“ ist es hier nicht getan.

Das Lumpenproletariat ist nicht systemfeindlich

Negativschlagzeilen machen die Banlieues immer dann, wenn dort Gewalt ausbricht. Die in Medienberichten zumeist als „Jugendliche“ titulierten Täter stellen in keiner Weise die Gesellschaft in Frage, die sie ausschließt. Ihnen geht es weniger um gesellschaftliche Anerkennung als um einen möglichst kurzen Weg zur materiellen Teilhabe, einen direkten Anschluß an die Netzwerke des Profits.

Insofern ist die Gewalt der Banlieues nicht im geringsten systemfeindlich – in ihrer Brutalität drückt sich eine Mißstimmung aus, die weder einen politischen Hintergrund hat noch auf  irgendwelchen noch so diffusen Forderungen gründet. Das Motto dieser Revolte lautet nicht: „Wir sind nichts, seien wir alles!“ Nein, sie fordert nichts und führt zu nichts. Die Verbrecherbanden, die über Drogenhandel, Gewalt und Terror die Herrschaft in den „Problemvierteln“ ergriffen haben, sind die zeitgenössische Verkörperung dessen, was Marx als Lumpenproletariat bezeichnete. Dieser „Abschaum“ (Nicolas Sarkozy) träumt nicht von einer besseren Welt, sondern von mehr Knete. Ihre Helden heißen weder Lenin noch Mohammed, sondern Al Capone und Bernard Madoff.

Freilich sollte man nicht vergessen, daß die Mächtigen der Finanz- und Bankenwelt Tag für Tag mehr Schaden anrichten als sämtliche Banlieue-Kleinkriminellen zusammen. In einem Zeitalter, da die kriminelle Wirtschaft ein Nebenprodukt der Weltwirtschaft ist, treibt sie alleine der Ehrgeiz, ganz unten auf brutale Weise dieselben Praktiken nachzuahmen, die ihnen „ganz oben“ vorgelebt werden.

Insofern sind die Banlieue-„Jugendlichen“, denen ständig die Weigerung oder Unfähigkeit zur gesellschaftlichen Integration vorgeworfen wird, bestens in das System integriert, das in ebenjener Gesellschaft vorherrscht. Wer die Jugendkriminalität als unvermeidliches Ergebnis von Armut und Arbeitslosigkeit betrachtet, geht dem Eingeständnis aus dem Weg, daß ein solches Verhalten vollkommen der Logik des Kapitalismus entspricht: einer ausschließlich gewinnorientierten, materialistischen Weltsicht, der allgegenwärtigen Zurschaustellung des leicht erworbenen Geldes. Zugleich wird die im kapitalistischen System selber angelegte Gewalt übertüncht – die Rückkehr zum Raubtierkapitalismus, mit der sich auch das gesellschaftliche Zusammenleben brutalisiert hat.

Im sozialen Verfall der Banlieues zeichnet sich die Zukunft der westlichen Welt insgesamt ab. Er ist Symptom und Folge einer Entsolidarisierung, einer allgemeinen Auflösung zwischenmenschlicher Beziehungen. Das Scheitern der „Integration“ liegt nicht allein am mangelnden Willen der Zuwanderer, sondern auch am Fehlen eines Modells, das ihnen erklären könnte, warum sie sich integrieren sollen. Und worin überhaupt integrieren? In ein Land, in eine Gesellschaft, in ein Wertesystem, in einen Supermarkt?

„Eine Gesellschaft, die selber in der Desintegration begriffen ist, hat keine Chance, ihre Zuwanderer zu integrieren“, schrieb Jean Baudrillard, „denn diese sind zugleich Ergebnis und schonungsloser Analysator der Desintegration.“ In einer Gesellschaft, die ihrerseits nicht mehr weiß, wer oder was sie ist, woher sie kommt und wohin sie geht, leiden Einwanderer geradezu zwangsläufig an einer Identitätskrise. Kein Wunder, daß sie das Land verachten, in dem sie leben, wenn dieses Land ihnen keine positive Identifikation zu geben vermag. Man verlangt von jenen „Jugendlichen“, ein Frankreich zu lieben, das sich selber nicht mehr liebt.

Mittlerweile lebt über die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten – und über ein Drittel aller Stadtbewohner in Elendsvierteln. Insofern ist die Rede von der „banlieuisation“, der weltweiten Ausbreitung der in den Trabantenstädten herrschenden Verhältnisse, keine Übertreibung. Tatsächlich sind jene Ausprägungen antisozialer Verstädterung, die die Probleme in den Banlieues verursachen, überall zu beobachten.

Metastasen, die ins Nichts wuchern

Was heute in den Banlieues passiert, wird erst verständlich, wenn man sich den tiefgreifenden Wandel bewußt macht, den die Städte in der Spätmoderne durchlaufen haben. Die große Metropole ist keine eindeutig definierte räumliche Einheit, kein bestimmbarer Ort mehr, sondern ein Ballungsgebiet, eine Zone, deren Metastasen an den Rändern auf anarchische Weise ins Unendliche – und schließlich bis ins Nichts – wuchern. Die Großstadt von heute ist kein Ort, sondern ein Raum, der erst durch die Zerstörung des Georteten und die Abschaffung des Lokalen entstehen kann. Sie läßt kein Maß und keine Grenzen gelten. Sie ist reine Ausdehnung, und das bedeutet Ent-Örtlichung im eigentlichen Sinne.

Laut Jean Vioulac bedeutet Verstädterung „nicht mehr die Niederlassung des Menschen in der Stadt als Ort, also einem Zentrum, einem Pol, von dem aus die Welt sich ordnen läßt und Sinn ergibt. Die Banlieues sind definiert durch das Fehlen solcher Pole, sie sind städtische Räume, die die Halteleinen zerrissen haben, die sie mit ihrem Zentrum verbanden, ohne daß sie sich von einem neuen Zentrum aus neu konstituiert hätten. Die ban-lieues sind von jedem Ort (lieu) verbannt, sie sind geradezu die Verbannung des Ortes aus dem Bewußtsein. (...) Sie sind die apolis, vor der Sophokles warnte.“

Der Vorort ist zum Un-Ort geworden. Dort leben (oder überleben) zwar Menschen, aber sie bewohnen ihn nicht. Das Drama liegt darin, daß die Gesellschaft der Gegenwart die Übel anprangert, die sie selber herbeigeführt hat, und die Konsequenzen einer Situation beklagt, die sie selber geschaffen hat.

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften „Nouvelle École“ und „Krisis“.

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