© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Literarisches Erntedankfest
Gemütlich: Lesungen auf dem Poetenfest Erlangen
Werner Veith

Stets im Herbst präsentiert die Frankfurter Buchmesse Tausende von Neuerscheinungen: hektisch, laut, eng, Menschenmassen drängt es zu Büchermassen. Anders dagegen beim Poetenfest in Erlangen. Dort lesen über 40 Schriftsteller entspannt aus ihren Neuheiten – stets am letzten Wochenende im August, schon dreißig Sommer lang. Es geht gemütlich zu bei diesem literarischen Erntedankfest, im Schloßpark umsäumt von viel Grünzeug.

Weniger gemütlich sind oft die Erzählungen. Sabine Küchler  wandert durch den argentinischen Urwald und ist sichtlich irritiert über die dortige Natur. Kein Naturgefühl steigt in ihrer Seele auf. Der Wald in Argentinien hat nichts zu tun mit dem heiligen deutschen Wald, in dem der Mensch zu sich kommt, in dem der Mensch erst Mensch wird, wie die Romantiker glauben. Stattdessen entzünden sich Streitereien in der Wandergruppe. Die argentinischen Dschungelführer kennen den Weg nicht, versprechen eine Wasserquelle, die dann doch nicht zu finden ist. Dafür spotten die Argentinier über die alten und fetten Europäer – nur weil sie schon den 30. Geburtstag hinter sich haben. Küchler läßt sich von soviel Taktgefühl nicht irritieren, sondern hat den ernsten Roman „Was ich im Wald in Argentinien sah“ in einer heiteren und amüsanten Tonlage verfaßt.

Einen Streifzug durch die Geschichte Europas entfaltet Hans Joachim Schädlich in „Kokoschkins Reise“. Rußland im Oktober 1917: Aktivisten der Mehrheitsfraktion der sozialdemokratischen Arbeiterpartei putschen gegen die Regierung Kerenski – und erstechen den Minister Kokoschkin.Der Sohn flieht ans Schwarze Meer, wo die österreichische Armee noch steht, dann nach Deutschland, später in die USA. Schädlichs Kunstgriff: Der Minister war eine historische Person, der Sohn ist herbeiphantasiert.

Man spürt, daß Kokoschkin der Held von Schädlich ist. Er ergreift Partei für die Partei Kokoschkins: die konstitutionellen Demokraten Rußlands. Sein Held entscheidet sich weder für den Nationalsozialismus noch für den Kommunismus, „sondern für die USA, für die bürgerliche Demokratie!“, sagt Schädlich, ein Schriftsteller aus der ehemaligen DDR.

Außerdem in Erlangen: Judith Zander erzählt vom Dorfleben in Vorpommern, Peter Wawerzinek über seine Zeit in Kinderheimen der DDR („Rabenliebe“), Christiane Neudecker gruselt mit weltweiten Gespenstergeschichten („Das siamesische Klavier“), Norbert Grein phantasiert sich in das Drama des Suhrkamp-Verlags hinein („Die ganze Wahrheit“) und Thomas Hettche schimpft, wenn die Mutter das Kind alleine erziehen will („Die Liebe der Väter“).

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