© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Replik auf Frank Schirrmacher
Sarrazin ist kein Sozialdarwinist
von Karlheinz Weissmann

Ohne Zweifel ist das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das einflußreichste der Republik. Ohne Zweifel ist dessen Chef, Frank Schirrmacher, ein einflußreicher Mann, einflußreich jedenfalls, wenn es um die öffentliche Diskussion geht. Seine Stellungnahmen verdienen Aufmerksamkeit. Es geht nicht nur um das, was er sagt, sondern auch darum, daß er es sagt und wo das Gesagte plaziert ist. Schirrmacher äußert sich als jemand, dessen Wort Gewicht hat.

Das gilt auch und gerade im Kontext der Sarrazin-Debatte. Schirrmacher hat das Thema im Kulturteil mehrfach aufgreifen lassen, nur in einem Fall mit positivem Akzent, sonst mit negativem. Als negative Voten müssen auch seine eigenen Artikel gelten, obwohl er es vermeidet, die üblichen Einwände und Beschimpfungen zu wiederholen.

Schon in seinem ganzseitigen Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (Ausgabe vom 29. August 2010) ging es Schirrmacher um den Nachweis, daß Sarrazin als Sozialdarwinist bezeichnet werden muß, der sich nicht nur pro forma auf Darwin und dessen Schüler – etwa Francis Galton – beruft, der seine wahren Ansichten aber dadurch kaschiert, daß er Reizvokabeln ausläßt und Bezugnahmen verwischt.

Soweit man das seinen Texten entnehmen kann, ist Sarrazin für Schirrmacher ein Sozialdarwinist, der alle gesellschaftlichen und staatlichen Prozesse vom „survival of the fittest“ bestimmt sieht, insofern auch demographischen oder ökonomischen Entwicklungen, diplomatischen oder kriegerischen Auseinandersetzungen eine biologische Dimension unterstellt. Er meint, daß Sarrazin in einer Denktradition steht, die in manchem direkt auf Darwin zurückgeht, dann aber vor allem von Sozialanthropologen Großbritanniens wie der USA aufgenommen wurde.

Diese glaubten einerseits ihre Klassenstellung und ihren wirtschaftlichen Erfolg, andererseits den Rang ihrer Nationen beziehungsweise der „master race“ – zu deutsch: „Herrenrasse“ – naturwissenschaftlich bewiesen, betrachteten das als Ergebnis eines Selektionsvorgangs und redeten von dieser Basis ausgehend Imperialismus, Eugenik und Segregation das Wort. Nur in Andeutungen spricht Schirrmacher davon, daß diese Weltanschauung in die des deutschen Nationalsozialismus einmündete und mitverantwortlich war für die Massenverbrechen des NS-Regimes.

Unbestreitbar ist eine gewisse Affinität zwischen dem klassischen Sozialdarwinismus und Sarrazins Konzept, auch weil er das neuere soziobiologische Konzept des „egoistischen Gens“ ablehnt und voraussetzt, daß in entscheidender Weise menschliche Verbände Subjekt wie Objekt des Prozesses sind.

Wer Thilo Sarrazin als „Sozialdarwinist“ diffamiert, blendet große Teile der linken und marxistischen Aneignung des Darwinismus aus. Er verkennt den heimlichen Siegeszug Darwins heutzutage in der genetischen Beratung, Abtreibung und Sterbehilfe.

Diesen Zusammenhang könnte man mit einer gewissen Nüchternheit zur Kenntnis nehmen, aber Schirrmacher geht es nicht um Feststellung und Prüfung, sondern um Insinuation. Der von ihm erhobene Vorwurf, sein Gegner verwische die Zusammenhänge oder gebe sie unvollständig wieder, fällt auf ihn selbst zurück. Es genügt jedenfalls nicht, darauf hinzuweisen, daß Liberale und „neue Rechte“ der viktorianischen Zeit begeisterte Darwinisten waren, denn dasselbe galt auch für einen großen Teil der Linken.

In Frankreich gab es gerade auf dem radikalen jakobinischen Flügel Anhänger der Idee, daß Klassenkampf und Rassenkampf (der „Kelten“ gegen die „Germanen“ beziehungsweise der „Arier“ gegen die „Semiten“) zusammengehörten. Die Überzeugung, daß „der Mensch vom Affen abstammt“ haben in Deutschland die Arbeiterbildungsvereine durchgesetzt, und die Sozialdemokratie berief sich bis zum Ersten Weltkrieg stolz auf Darwin und Marx.

Letzterer hatte ersterem „Das Kapital“ mit ehrender Widmung zugesandt – „Mr. Charles Darwin / On the part of his sincere admirer / Karl Marx / London, 16 June 1873“ – und war überzeugt, daß die Evolutionstheorie im wesentlichen nichts anderes besage als seine eigene Lehre vom objektiven Fortschritt und vom Antagonismus der Klassen.

Schirrmachers Behauptung, der Darwinismus zehre von einer „Rückübertragung ökonomischer Theorien in die Welt der Natur“ ist bestenfalls spekulativ. Eher könnte man davon sprechen, daß es eine Analogie zwischen dem „Gesetz des Dschungels“ und der freien Konkurrenz des Hochkapitalismus gibt, was im 19. Jahrhundert eine Bezugnahme nahelegte, aber nicht erzwang.

Lange vor Darwin wußte man vom Kampf als dem entscheidenden Medium der Menschheitsentwicklung, wenn nicht der Natur überhaupt. Auch die marxistische Geschichtsphilosophie ging von verschiedenwertigen Rassen und Völkern aus. Außerdem glaubte sie, es müsse bis zum Ende eine dauernde Folge blutiger Revolutionen geben, die letztlich den Sieg der Überlegenen bringen werde.

Die Meinung, daß die Überlegenheit eine Frage der größeren Zahl sei und den Triumph des Proletariats verbürge, lag im positivistischen Zeitalter nahe. Die Schwäche ihrer Argumentation wurde den Sozialisten erst klar, als sie begriffen, daß der Darwinismus mit Gleichheitsgrundsätzen für eine menschliche Zukunftsordnung unvereinbar blieb, während er sich hervorragend zur Rechtfertigung elitärer Systeme eignete.

Am Rande sei erwähnt, daß eine einflußreiche Minderheit innerhalb des linken Lagers am Sozialdarwinismus trotzdem festhielt und Maßnahmen zur Fortpflanzungsbeschränkung von „Asozialen“ wie zur Abtreibung aus eugenischen Gründen guthieß beziehungsweise praktizierte, wenn sie in den Besitz der Staatsmacht kam; in der NS-Zeit hatte die Exil-SPD sogar das Gesetz zur „Erbgesundheitspflege“ im Grundsatz bejaht.

Wenn Schirrmacher nun über eine „jahrhundertelange, zum Teil verheerende wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte darwinistischer Theorien“ spricht, dann ist nicht nur der Zeitraum übertrieben, es fehlen bei ihm auch wichtige Aspekte der Aneignung. Dabei  fällt es schwer, an zufällige Lücken zu glauben.

Diese Einschätzung gilt nicht zuletzt für das Umetikettieren der Biopolitik seit den 1960er Jahren, angefangen bei der Durchsetzung effektiver Verhütungsmethoden über die Individualisierung der genetischen Beratung, die Erlaubnis zu „embryopathischen“ Abtreibungen bis zur Legalisierung der Sterbehilfe in Ländern wie der Schweiz oder den Niederlanden. Die heute üblichen eugenischen Maßnahmen werden nicht offen benannt und gelten als akzeptabel, da sie individualistisch begründet werden. Angeblich haben sie keine gesellschaftspolitische Komponente, dienen weder dem „Fortschritt“ noch der „Arterhaltung“. Am Tatbestand ändert das aber nichts.

Von alledem ist bei Schirrmacher keine Rede; er schweigt sich aus über die tatsächlichen Probleme in ethnisch heterogenen Gesellschaften, die Masseneinwanderungen zugelassen haben. Das hat wesentlich mit seiner Entschlossenheit zu tun, diese als die beste aller denkbaren Welten zu verteidigen.

Dabei legt er niemals offen, an welchen Maßstäben er mißt, wenn er den Multikulturalismus feiert und Sarrazins Kritik verwirft. Erst am Schluß seines Leitartikels zum Fall Sarrazin („Sarrazins drittes Buch“, FAZ vom 1. September 2010) deutet er an, worum es ihm tatsächlich geht. Es heißt da: „Nichts verhindert die Klugheit einer Gesellschaft mehr als Biologismus.“

Auch wenn er betont, daß die natürliche Seite nur die eine Seite des Menschen ist, öffnet Frank Schirrmacher eine Schublade. Das Verdikt des Feuilleton-Chefs läßt sich im Grunde nur dadurch erklären, daß Schirrmacher seinen Angriff als notwendigen Präventivschlag betrachtet. Tatsächlich vermutet er, daß Sarrazin eine „neue politische Moral“ durchsetzen wolle, die sich auf „Naturgesetze“ gründe. Dagegen sei Widerstand geboten, nicht weil die Auffassung falsch, sondern weil sie gefährlich ist; eine Lehre, die man von den Menschen fernhalten muß, weil sie verwirren könnte, weil sie „den Menschen das Gefühl gibt, festgelegt zu sein, und weil er anderen die Macht gibt, sie festzulegen“.

Man staunt über solche Sätze, weil Schirrmacher kaum im Ernst meint, daß Menschen nicht festgelegt sind und nicht festgelegt werden. In den vergangenen Jahren hat er den Tod des klassischen Feuilletons behauptet und erklärt, daß es keine wichtigere Aufgabe als die Entschlüsselung des menschlichen Genoms existiere. Zudem hat Schirrmacher einen „Grundkurs Soziobiologie“ bringen lassen und einer Debatte über die Hirnforschung breiten Raum gegeben.

Die Ent-Täuschung über die natürliche, biologische Seite des Menschen könnte zu einer Destabilisierung der politisch-medialen Klasse führen. Ihre Illusionen über die Gleichheit aller Menschen würden schnell platzen. Und mit ihnen die herrschende Moral.

Gelegentlich kam sogar der Bevölkerungstheoretiker Gunnar Heinsohn zu Wort, der kaum anders argumentiert als Sarrazin. Auch Schirrmachers Analyse des demographischen Kollapses – „Minimum“ – arbeitet sehr stark mit Verweisen auf die Erkenntnisse der Biologie. Allerdings zeigt er sich schon da bemüht, sich sorgsam von bestimmten, das heißt pessimistisch stimmenden, Aspekten des Darwinismus beziehungsweise des Malthusianismus abzugrenzen.

Jedenfalls hat Schirrmacher hinreichend deutlich gemacht, daß er von der Naturseite des Menschen weiß, die – wenn nicht mit Festlegung, dann doch mit Disposition zu tun hat – auf eine Unverfügbarkeit unseres biologischen Erbes und der elektrochemischen Prozesse in unserem Denkapparat hinausläuft. Auch deshalb kann man sich nur schwer vorstellen, daß er das Credo der Milieutheoretiker, der Linken und der Egalitären, das er nachspricht, wirklich glaubt.

Näher liegt die Vermutung, daß Frank Schirrmacher den kulturalistischen Fehlschluß vom Sollen auf das Sein aus taktischen Motiven stützt. Er ist Teil einer nützlichen Illusion, die aufrechterhalten werden muß, weil die Ent-Täuschung schrecklich wäre. Sie könnte zu einer Destabilisierung der politisch-medialen Klasse führen, der Schirrmacher angehört. Wenn er Sarrazin vorwirft, daß dessen Gedankengänge Konsequenzen hätten, „die er sich selbst nicht zu ziehen traut und sogar mit Fleiß verbirgt und die in ihrem Ergebnis manchem seiner Anhänger den Atem rauben würden“, so kann auch das gegen Schirrmacher selbst gewendet werden.

Daß sich in der politischen Klasse und in der Elite der Sinnvermittler „alle einig“ (Reinhold Beckmann) sind, beruht nicht auf Überzeugungsfestigkeit oder Faktenlage. Dahinter verbirgt sich vielmehr der Wille, jeden zum Schweigen zu bringen, der grundsätzliche Zweifel an der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte äußert. Die Frage nach den Kosten der „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas) zu stellen, den Konsens der Gleichmacher zu stören, auf die unabsehbaren Folgen der Einwanderung hinzuweisen – das bedeutet, sich einem Allparteienbündnis entgegenzustellen, das mit aller Härte zurückschlägt, ja zurückschlagen muß, weil alle irgendwann irgendwelche Verantwortung ausgeübt haben und eben das vergessen machen wollen.

Die von Schirrmacher ins Feld geführte „Moral“, die er der „neuen politischen Moral“ entgegensetzt, als deren Avatar Sarrazin erscheint, ist insofern nicht der erreichte Stand des aufgeklärten Denkens, des Fortschritts der zivilisierten Welt, auch nicht das universelle Menschenrecht oder gar die geoffenbarte Gottessatzung, sondern nichts anderes als die Moral der Herrschenden.

 

Dr. Karlheinz Weißmann, ist Historiker, Studienrat an einem Göttinger Gymnasium und Spiritus rector des Instituts für Staatspolitik. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Verwestlichung der Bundesrepublik (JF 16/09).

Foto: Die Evolution der Argumente: Für den FAZ-Mitherausgeber Frank  Schirrmacher will Thilo Sarrazin eine  neue politische Elitenmoral auf darwinistischer Grundlage schaffen

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