© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/10 17. September 2010

Pankraz,
Sarrazin/Steinbach und die Empör-Eliten

Die Zeiten ändern sich. An die fünfzehn Jahre ist es her, die deutsche Regierung saß noch in Bonn und zeigte nicht die geringste Eile, nach Berlin umzuziehen, da schrieb Pankraz in der JF aus gegebenem Anlaß folgendes:

„Manchmal bekommt Bonn Anfälle von Selbstkritik, so auch während der letzten Wochen, als plötzlich – vom Bundespräsidenten abwärts – wie auf Kommando eine ganze Reihe von Großwürdenträgern und Großbakschisch-Einnehmern darüber zu klagen anfing, daß es bei uns keine Eliten mehr gebe und daß man das schnellstens ändern müsse. Auf den Gedanken, daß doch sie selbst, die Klagenden, all die Minister und Verbandsvorsitzenden und Medien- bzw. Schickimicki-Fürsten, Elite seien, kam niemand. Selten wurde ein Minderwertigkeitskomplex so offen und ungeniert ausgestellt.“

Heute wirkt solches Reden wie eine Märchenerzählung von fernen Kontinenten. Denn von nichts sind die zitierten Großwürdenträger und Großbakschisch-Einnehmer inzwischen  mehr überzeugt als von dem Gedanken, daß es im Lande durchaus eine hochachtbare, ja geradezu ehrfurchtgebietende Elite gäbe und daß niemand anders als sie selbst eben diese Elite seien. In den Talkshows und anderen Medien wimmelt es plötzlich von Elite-Bekennern („Wir als Elite“), die sich mit äußerster Selbstgefälligkeit von der „Masse des übrigen Volks“ separieren und sich viel darauf zugute tun.

Katalysator für den neuartigen öffentlichen Drang zur Elite sind Dissidenten aus den eigenen Reihen à la Sarrazin oder Steinbach, welche bestimmte Sprechweisen verletzt haben, gewisse „Codes“, die man befolgen muß, um „dazuzugehören“ und sich von den übrigen neunzig Prozent der Bevölkerung abheben zu können. Nun ist man also „empört“. Das Land hallt zur Zeit wider von tagtäglichen Empörungsschreien aus Politiker- und zugeordneten Kläffermündern. Sich zu empören ist offenbar zum totsicheren Ausweis dafür geworden, daß man Elite ist.

Sämtliche Meinungsumfragen, Partygespräche, Stammtischverläufe besagen, daß die Dissidenten eine ungeheure Mehrheit im Volk hinter sich haben. Unabhängig gebliebene Politikbeobachter und Analysierer geben zu verstehen, daß diese ungeheure Mehrheit mit größter Wahrscheinlichkeit recht hat, daß die Dissidenten zumindest auf echte Probleme und sträfliche Politikversäumnisse aufmerksam machen. Aber was soll’s? Um so schlimmer für die Rechthaber!

Wer fragt in heutigen Elitekreisen denn nach Rechthaben oder Mehrheiten? Wenn man dort seinen Besitzstand durch kluge Abweichler bzw. wacklig gewordene Mehrheiten gefährdet wähnt, markiert man sofort Empörung. Im lateinischen Wörterbuch gibt es zwei Arten von Empörung, eine von oben und eine von unten. Die von unten (seditio) meint Aufruhr, Umsturz von Verhältnissen; die von oben (indignatio) meint Ratlosigkeit, Panik. Man ist zwar aufs äußerste indigniert, aber zu feige und/oder zu dumm zum Handeln. Das ist die Empörung, die uns jetzt aus den Medien entgegenschallt.

Ob die Empörten (mit der aufs höchste empörten Dame an der Spitze) zuviel Vilfredo Pareto gelesen haben? Der konstatierte bekanntlich, daß es einen „Kreislauf der Eliten“ gebe, daß die oberen Instanzen einer Gesellschaft sich ab einem gewissen Zeitpunkt gegen Zufluß an Elitequalität planmäßig abschotten und allmählich geistig verzwergen, während sich in gewissen „unteren“, künstlich von der Macht ferngehaltenen Schichten ein neues Elitebewußtsein formiert, das schließlich nach oben drängt. Eines Tages wird die Spannung zwischen den Zwergen oben und den neuen Elitären unten unerträglich, es kommt zur Revolution, und – hoppla! – die Eliten sind „ausgetauscht“.

An sich klingt die Paretosche Elitetheorie recht witzig, aber was Pankraz schon immer an ihr gestört hat, ist ihr Beharren auf „Revolution“. Keine Revolution, weder die französische von 1789 noch die russische von 1917 noch die nationalsozialistische von 1933 noch sonst eine in Afrika oder Lateinamerika, hat je zu einem Anwachsen von Führungstugend (virtù) in den oberen Etagen geführt, im Gegenteil, es wurden stets, außer einigen wirklichen Schmarotzern unzählige Elitetypen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur eliminiert, weggetrieben, am Entfalten ihrer Fähigkeiten brutal gehindert.

Es sind keine Elitetypen, die in einer Revolution nach oben kommen, sondern – hierin hatte Friedrich Nietzsche nur allzu recht – Dämonen des Ressentiments und des Nihilismus. Außerdem stimmt es nicht, daß führende Schichten gleichsam per Naturgesetz dazu verdammt sind,  eines Tages zu verzwergen; wenn sie es trotzdem tun, so liegt das nicht an irgendwelchen Gesetzen, sondern an ihrer Dummheit und an ihrem Eigendünkel.

Gute Eliten zu haben, ist ein historischer Glücksfall. Man kann sie nicht herbeizwingen, allenfalls herbeireden, will sagen: man kann die Parameter für gute Herrschaft sorgfältig  erkunden, und man kann sie mit Hilfe gediegener wissenschaftlich-medialer Exkurse auch gesellschaftlich attraktiv und wirkkräftig machen. Nötig ist dann wohl auch noch der Auftritt von Dissidenten vom Schlage Thilo Sarrazins (oder Wolfgang Clements oder Erika Steinbachs), die jahrzehntelang in führender Position bei den Eliten tätig gewesen sind und eines Tages aus ihrem Herzen keine Mördergrube mehr machen wollen.

Leider liegen die Dinge, was Elitenverbesserung betrifft, in unserem Land zur Zeit besonders im argen. Die indignierten Empörungsschreie zeigen es allzu deutlich. Nicht nur ist das Spektrum offiziell geduldeter Meinungen lächerlich eng geworden, sondern man bekommt zu spüren, daß Diskussion – selbst über Nebensächlichkeiten – gar nicht mehr zugelassen werden soll. Medien und Politik haben sich schier unentwirrbar zu einem politisch-medialen Komplex (man könnte auch sagen: zu einem Misthaufen) verklumpt und verstopfen die Kanäle. Da haben es Dissidenten besonders schwer.

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