© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/10 24. September 2010

„Danke Mama, ich darf leben“
„Marsch für das Leben“: Trotz wütender Gegendemonstranten protestieren Hunderte gegen Abtreibungen
Anni Mursula

Die Berliner Polizei hat an diesem Sonnabend alle Hände voll zu tun: In Schöneweide hält die NPD eine Kundgebung gegen das Integrationsgesetz des Senats ab – wogegen es wie immer zahlreiche Proteste gibt – und vor dem Kanzleramt tummeln sich Zehntausende Atomkraftgegner. Unzählige Einsatzfahrzeuge brausen durch die Straßen der Hauptstadt, überall stehen uniformierte Beamte. Zahlreiche Kamerateams und Reporter verfolgen das Geschehen. „Nazis“ und Anti-Atomproteste sind schließlich immer für eine Schlagzeile gut. Unweit des Regierungsviertels findet zur gleichen Zeit eine weitere Demonstration statt. Auch hier ist die Polizei mit zahlreichen Kräften im Einsatz. Doch das Medieninteresse ist deutlich geringer. Nur eine Handvoll Journalisten ist gekommen.

Und das, obwohl die größte konservative Demonstration der Hauptstadt durchaus einiges an Stoff bietet: Fast zweitausend Christen versammeln sich zum sechsten Mal in Berlin, um für die Untastbarkeit des Lebens zu demonstrieren. Und wem das zu „altbacken“ ist, für den bietet die von Jahr zu Jahr aggressiver werdende Gegendemonstration linksextremer und radikalfeministischer Gruppen ein angemessenes Schauspiel. Im vergangenen Jahr wurde von diesen eine Bibel verbrannt. Doch im Gegensatz zu den entsetzten Kommentaren der vergangenen Wochen über eine geplante Koranverbrennung in den Vereinigten Staaten ist so etwas offenbar keine Nachricht wert.

Vor der Marienkirche am Roten Rathaus wechseln sich an diesem Tag Sonne und Regen im Minutentakt ab: Die Wolken am Berliner Himmel fliegen nur so vorbei. „Weißt du, wir sind von ganz weit nach Berlin gekommen – aus Deutschland“, sagt ein kleines Mädchen auf die Frage, warum sie mit ihren Eltern zu der Demonstration gekommen sei. „Ich mußte aufstehen, als es draußen noch dunkel war!“ Ein wenig müde sei sie noch, obwohl sie im Zug geschlafen habe. Aber es sei ja schließlich wichtig dabeizusein, sagt sie plötzlich ganz ernst. „Weil die Frauen keine Kinder mehr haben wollen.“

Während ihre Eltern zuhören, wie der Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht (BVL), Martin Lohmann, Grußworte aus Politik und Kirche verliest, spielen die Kinder mit den vom stürmischen Septemberwind heruntergerissenen Blättern und Ästen. Unweit von ihnen bilden Bereitschaftspolizisten eine Kette – zur Absperrung.

Polizei hält Linksextremisten in Schach

Wie eine Mauer stehen die vollausgerüsteten Polizisten am Rand der Kundgebung. Mehrmals empfehlen sie den mit Kindern gekommenen Eltern, „die Veranstaltung zu ihrer eigenen Sicherheit zu verlassen“. Doch die wollen davon nichts wissen: „Es ist sehr wichtig, daß hier auch Kinder zu sehen sind“, sagt die fünffache Mutter Sara Melchert (35). „Denn Kinder sind ein Beweis dafür, daß sich ihre Eltern auf die Seite des Lebens geschlagen haben. Weil sie sich eben bewußt für ihre Kinder – und nicht gegen sie – entschieden.“ Von der Gegendemonstration lasse sie sich nicht abschrecken. Außerdem vertraue sie der Polizei. Die sei schon in der Lage, sie und ihre Kinder zu beschützen.

Auch für die dreißigjährige Hedi Moses aus Schwäbisch Gmünd war es wichtig, ihre vier Kinder zu der Demonstration mitzunehmen. Sie geht sogar noch einen Schritt weiter und hat sich ein Schild umgehängt. „Vier Kids – keins zuviel!“ Ihre beiden Töchter tragen ebenfalls Plakate: „Danke Mama – ich darf leben!“ steht auf ihnen. Provokant findet Hedi Moses das nicht. Es solle lediglich zum Ausdruck bringen, wie glücklich und dankbar sie über jedes ihrer Kinder ist. Angst hat auch sie nicht. „Und wenn: Ein bißchen Angst ist nur ein kleiner Preis im Gegensatz zu den vielen ungeborenen Kindern, die mit ihrem Leben bezahlt haben.“

Der Wind macht es den linken Gegendemonstranten schwer, ihre Transparente gerade zu halten. Nur kurz kann man auf einem von ihnen das Bild eines katholischen Bischofs sehen, der hinter einem Baby kniet. Darunter der Text: „Wir wissen, warum ihr kleine Kinder liebt …“ Doch eine kräftige Böe sorgt dafür, daß die Provokation nur von kurzer Dauer ist. Auch die Organisation Pro Familia, die ebenfalls zum Bündnis der Gegendemonstranten gehört, beschließt, ihre Plakate wieder einzurollen, bevor der Wind sie zerreißt. Doch die unablässig geschrienen Parolen wie „Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat!“, „Verpißt euch, ihr scheiß Christen!“, „Nazis raus!“ oder „Hätt’ Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben!“, kann auch der Wind nicht wegfegen: Die etwa 150 Linksextremisten machen es schwer, die Kundgebung der Lebensschützer zu verstehen.

Obwohl die Polizei einzelne Randalierer gezielt herausgreift und abführt, gelingt es ihr nicht, für ausreichend Abstand zwischen den Krawallmachern und der Kundgebung des BVL zu sorgen. Vermutlich aus Gründen der „Deeskalation“. Diesen dürfte es auch geschuldet sein, daß wenig später Teilnehmer des Schweigemarsches von den Gegendemonstranten mit Eiern und farbgefüllten Kondomen beworfen werden. „Das ist ziemlich erniedrigend“, ärgert sich eine junge Frau mit Rock und Stiefeln. Dennoch läuft sie unbeirrt weiter. Die Hände umklammern dabei fest das weiße Holzkreuz, das sie wie so viele andere vor sich trägt, um an die tausend Kinder zu erinnern, die an jedem Werktag in Deutschland abgetrieben werden.

Doch provozieren lassen sich die Lebensschützer nicht. Einige von ihnen diskutieren zwar mit den Gegnern, die sich teilweise unter den Marsch für das Leben gemischt haben und nun versuchen, die Teilnehmer zu reizen. Ein junger Mann holt sogar eines der Holzkreuze zurück, das Linksextremisten ergattert haben und nun falsch herum als Satanssymbol hochhalten. Doch auch er kann nicht verhindern, daß die Gegendemonstranten 44 Holzkreuze erbeuten und in die Spree werfen.

Dennoch fällt die Bilanz der Lebensschützer positiv aus: „Auch die Polizei kann nicht alles verhindern“, sagt eine ältere Frau mit grauen Locken vor der St. Hedwigs-Kathedrale. Eigentlich will sie noch mehr sagen, aber sie muß zur Seite weichen, weil zwei Einsatzpolizisten einen geschminkten Mann aus der Kirche herausschleifen. Er wollte in Stöckelschuhen und einem kurzen Kleid den ökumenischen Abschlußgottesdienst stören. „Die Polizei macht ihre Arbeit eigentlich ganz gut“, findet die Frau und lacht. „Immerhin ist uns allen nichts passiert. Außerdem lassen wir uns durch solche Aktionen nicht entmutigen und sicherlich nicht den Mund verbieten! Es kann nicht sein, daß nur die Gehör finden, die am schrillsten auftreten und am lautesten brüllen“, sagt sie. Im nächsten Jahr werde sie daher wieder dabeisein. Irgendwer müsse ja auf die unzähligen Kinder aufmerksam machen, die in Deutschland jährlich abgetrieben werden.

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