© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/10 24. September 2010

Von der Utopie zur Ideologie zum Alptraum
Dokumentation: Die Filmemacher Sabine Gisiger und Beat Häner zeichnen in „Guru – Bhagwan“ die Entwicklung der indischen Sekte nach
Claus-M. Wolfschlag

Wann begann es schiefzulaufen?“ fragen die Filmemacher Sabine Gisiger und Beat Häner am Anfang ihres ergreifenden Dokumentarfilms. „Guru“ wirft den Betrachter in eine Reise durch die 1970er und 1980er Jahre. Erzählt wird die Geschichte der legendären Bewegung von „Rajneesh“ Chandra Mohan Jain, besser bekannt unter dem Kurznamen „Bhagwan“.

Der 1931 in Indien geborene Philosophieprofessor begann sein Wirken in den sechziger Jahren als Vortragsreisender und Kritiker Ghandis und des Sozialismus. Er plädierte statt einer Verherrlichung der Armut für Kapitalismus, Wissenschaft, Technologie und Geburtenkontrolle, um dadurch Indiens lethargischen Zustand zu überwinden. Als Provokateur eckte er auf der einen Seite an, wie er durch seine charismatische Ausstrahlung auf der anderen Seite Anhänger gewann. In einer öffentlichen Veranstaltung in Bombay stellte er 1970 erstmals seine „dynamische Meditation“ vor und begann Anhänger um sich zu sammeln. Diese „Neo-Sannyasins“ trugen orangene Gewänder sowie eine Holzkette mit 108 Holzkugeln und dem Bild des Meisters.

Die bis dahin innerindische Bewegung erhielt ihre Dynamik aber erst durch westliche Interessenten und die Umstellung der Vortragssprache auf Englisch. Junge Hippies aus Europa und den Vereinigten Staaten strömten nun immer stärker zu Bhagwan Shree Rajneesh, der schließlich von Bombay in das spirituelle Zentrum Pune übersiedelte. Bhagwans neuartige Kombination von Meditation, Askese, Kapitalismus, Hedonismus und sexueller Befreiung hatte ungeahnte Anziehungskraft auf Teile der nach Orientierung suchenden Jugend jener Ära. Und so bildete sich um ihn das Zentrum einer friedlichen Lebensgemeinschaft, die von spiritueller Experimentierfreude und der Sehnsucht nach Liebe als Essenz des menschlichen Daseins geprägt war.

Sabine Gisiger und Beat Häner stellen den Originalaufnahmen jener Jahre Interviewsequenzen mit zwei einstigen Vertrauten des 1989 verstorbenen Meisters entgegen – der Inderin Sheela, die als seine Sekretärin und rechte Hand gewirkt hatte, und dem Schotten Hugh Milne, einst Bhagwans Leibwächter. Beide arbeiten heute im therapeutischen Bereich und können als Geläuterte, eventuell als Aussteiger, nicht aber als Renegaten betrachtet werden – zu stark scheint bis heute die Bannkraft Bhagwans, um sich gänzlich seiner Faszination entziehen zu können.

Beide schildern die Faszination der Bewegung und berichten dennoch auch schnörkellos von deren Schattenseiten und ihrem mit emotionalen Qualen verbundenen Ausstieg, Milne noch viel offener und ehrlicher als die zögerlich wirkende Sheela, die offenbar noch einigen unverarbeiteten Ballast aus ihrer Vergangenheit mitschleppt.

Was in Pune noch spielerisch als Kommune fröhlich tanzender Menschen begann, entwickelte sich ab der Übersiedlung des Ashrams in den US-Bundesstaat Oregon im Jahr 1981 zum Alptraum. Die Gemeinschaft vollzog eine Wandlung. Der Guru huldigte zunehmend dem Materialismus, legte sich eine Rolls-Royce-Flotte zu, zog sich zurück – teils im Drogendelirium. Die Gemeinschaft der Sannyasins wurde strikter Arbeitsdisziplin unterworfen, engagierte sich auf fragwürdige Weise politisch und erhielt machthierarchische und paramilitärische Züge. Träumer und Leichtgläubige entwickelten sich zu Tyrannen. Die Utopie zerfiel, wie das filmische Zeitdokument darlegt, auch in der schmerzlichen Nachbetrachtung der einstigen Anhänger.

Dieses bedrückende Szenario wirft die Frage nach dem grundsätzlichen Wesen des Gurus selbst auf: War er ein Erleuchteter, ein Visionär oder nur ein Menschenfänger und Scharlatan? Liegt womöglich diese Gefahr des Scheiterns an sich selbst strukturell in jeder Form von Guru- oder Führertum? Die Faszination der Gurus jedenfalls scheint zu bleiben, doch ihr Weg bewegt sich oft am Abgrund. Und so stellt sich auch die Frage, ob der Impuls, der die Bhagwan-Bewegung einst trug, heute wirklich verloschen ist, oder ob er latent bleibt und nur auf einen neuen historischen Moment wartet: Jenen richtigen Moment, an dem die richtigen Leute am richtigen Ort zusammentreffen.

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