© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/10 24. September 2010

Dem heiligen Krieg ins Antlitz schauen
Vor zehn Jahren besuchte der israelische Politiker Ariel Scharon medienwirksam den Tempelberg / Beginn der Zweiten Intifada
Michael Wiesberg

Gut zehn Jahre ist es her, daß Ariel Scharon, der damalige israelische Oppositionsführer, mit seinem Besuch auf dem Jerusalemer Tempelberg am 28. September 2000 die „Zweite Intifada“, die wegen der dortigen Moschee auch als „Al-Aqsa-Intifada“ bezeichnet wird, maßgeblich mit ausgelöst hat. Der blutige Konflikt, der sich in der Folge entspann, sollte erst im Februar 2005 enden, als Scharon, zu diesem Zeitpunkt Israels Ministerpräsident, und der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, Jassir Arafat, einen Waffenstillstand vereinbarten.

Der „Zweiten Intifada“ vorausgegangen war das Treffen von Camp David (11. bis 25. Juli 2000), auf dem sich Israel erstmals bereit gezeigt haben soll, über die Rückführung palästinensischer Flüchtlinge und über den Status von Jerusalem zu reden. Dabei soll Israels damaliger Premier Ehud Barak – der sich im übrigen weigerte, direkt mit Jassir Arafat zusammenzutreffen – auch angedeutet haben, daß er sich den Osten Jerusalems, von den Palästinensern Al Quds genannt, als mögliche Hauptstadt eines palästinensischen Staates vorstellen könnte. Diese vermeintlichen Zugeständnisse sollen Scharon auf den Plan gerufen haben, der den Anspruch Israels auf Jerusalem relativiert sah.

Palästinenser riefen sofort die Zweite Intifada aus

Sein Besuch auf dem Gelände der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg, der von den Muslimen Haram al-Sharif genannt wird und für Muslime nach Mekka und Medina die drittwichtigste religiöse Stätte ist, führte bereits im Vorfeld zu Protesten. Scharon, umringt von Soldaten, die ihn begleiteten, unterstrich den Anspruch Israels auf ganz Jerusalem, als er erklärte: „Ich brauche von niemandem eine Erlaubnis, um in Jerusalem irgendwo hinzugehen.“ Mit diesem Anspruch aber steht Israel mehr oder weniger allein. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zum Beispiel hat die Annexion Ost-Jerusalems für null und nichtig erklärt.

Am Tag nach dem Besuch Scharons eskalierten die Ereignisse, als israelische Soldaten vier Palästinenser erschossen. Die FAZ kommentierte damals: „Die Entscheidung der israelischen Regierung, tödliche Mittel gegen Demonstranten einzusetzen, war bedeutsamer als Ursache für die Al-Aqsa-Intifada, als der Besuch Scharons.“ Die Reaktion auf diese Auseinandersetzungen ließ nicht lange auf sich warten: Im Gazastreifen und im Westjordanland kam es mehr und mehr zu bewaffneten Angriffen auf die israelischen Besatzer. Palästinensische Organisationen riefen die „Zweite Intifada“ aus, also den gewaltsamen Widerstand gegen Israel. Für die israelische Regierung war der Schuldige in der Person von Jassir Arafat schnell gefunden. Ihm wurde vorgehalten, den Aufstand mit initiiert zu haben, um palästinensische Forderungen, die auf dem Verhandlungsweg nicht zu erreichen waren, doch noch durchzusetzen. Weiter wurde Arafat vorgeworfen, das weitgehende Angebot Baraks abgelehnt zu haben, woraufhin „die Gewalt folgte“, und zwar unabhängig von Scharons Tempelbergbesuch. Dieses Angebot habe darin bestanden, einen Palästinenserstaat zu schaffen, der über neunzig Prozent des Westjordanlandes, den Gazastreifen und Ost-Jerusalem als Hauptstadt umfaßt. Arafat aber hätte angeblich darauf beharrt, daß Millionen von palästinensischen Flüchtlingen das Rückkehrrecht garantiert wird. An dieser Forderung vor allem seien die Verhandlungen von Camp David dann schließlich gescheitert.

Dieser Version hat zum Beispiel Robert Malley, einer der Berater von US-Präsident Bill Clinton, widersprochen. Er wandte sich in einem zusammen mit Hussein Agha, Chefredakteur einer palästinensischen Zeitung, verfaßten Beitrag für das Journal of Palestine Studies (121/2001) sowohl gegen die Version, es habe ein weitreichendes Angebot Baraks gegeben, als auch gegen die Behauptung, Israel könne nicht mit Arafat verhandeln, weil er für den Ausbruch der Gewalt auf dem Tempelberg verantwortlich sei. Malley strich weiter heraus, daß sich Arafat zwar für die Anerkennung des Rechts auf Rückkehr für die palästinensischen Flüchtlinge eingesetzt habe, sich aber mit einer begrenzten Rückführung bzw. Entschädigung einverstanden erklärt habe. Wörtlich erklärte Arafat am 15. Juni 2000 in Washington: „Aber wir müssen versuchen, einen Ausgleich zu finden zwischen unseren Anliegen und demographisch begründeten Befürchtungen der Israelis.“ Malley setzte sich mit seiner Interpretation der Vorgänge in Gegensatz zu Clinton, der sich weitgehend der israelischen Deutung der Vorgänge anschloß. Seitdem steht Malley, der sich auch für eine Kooperation mit der Hamas ausgesprochen hat, auf der Schwarzen Liste der Israelfreunde, was unter anderem Obama, für den Malley als Berater tätig ist, im Präsidentschaftswahlkampf zu spüren bekam.

Arafats Rolle beim Ausbruch der Intifada ist umstritten

Malley steht mit seinem Widerspruch gegen die Version, Arafat trage die Hauptverantwortung für das Scheitern von Camp David und den Ausbruch der „Zweiten Intifada“, keineswegs allein. Auch der langjährige Jerusalem-Korrespondent des Senders France 2, Charles Enderlin, hat sich, unter anderem in seinem Buch bzw. seiner DVD „Le Rêve brisé“ (Paris 2002) bemüht, ein differenzierteres Bild der Vorgänge in Camp David zu zeichnen. Enderlin hatte direkten Zugang zu den meisten Akteuren beider Seiten, konnte sie bei Besprechungen filmen und immer wieder befragen. Enderlin widerspricht mit Vehemenz der Behauptung, Arafat sei ein Palästinenserstaat in Aussicht gestellt worden. Dessenungeachtet übernahm ein Großteil der westlichen Medien die Version, Arafat in erster Linie sei für das Scheitern von Camp David verantwortlich.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen