© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Mission Demokratie gescheitert
Irak: Mit ihrem Truppenabzug signalisieren die USA ihr Desinteresse und hinterlassen ein Land in Ohnmacht
Ferhad Ibrahim

Politischer Stillstand im Irak. Auch sieben Monate nach der letzten irakischen Parlamentswahl können sich die irakischen Akteure immer noch nicht über die Bildung einer neuen Regierung einigen. Damit sind die Verfassungsorgane praktisch nicht mehr funktionsfähig. Angesichts zunehmender Gewalt – allein die vergangenen Monate galten als die blutigsten seit langem – ist das ein Tanz auf dem Vulkan.

Ohne die Schiiten ist      keine Einigung machbar

Daß die Märzwahlen eine schwierige Situation verursachen könnten, war vielen Irak-Beobachtern klar. Dennoch gab es auf einigen Politikebenen nach den ersten freien Wahlen im Jahr 2005 signifikante Veränderungen und Machtverschiebungen. Die wichtigste Veränderung war die Relativierung der ethnisch-konfessionellen Solidarität, die noch in der Hochphase des Bürgerkrieges in den Jahren 2004 bis 2007 als Instrument der politischen Mobilisierung diente. Wie kam es zu diesem Wandel?

Primär war der Wandel das Ergebnis einer erfolgreichen politisch-militärischen Strategie. Es gelang den USA und der schiitisch geprägten Regierung Nuri al-Maliki, die sunnitischen Stämme für das neue System zu gewinnen. Zwar zeigten die Sunniten selbst bis ins Jahr 2005 hinein gegenüber den sunnitischen bewaffneten Aufständischen eine eher wohlwollende Haltung. Doch dies änderte sich spätestens 2007.

Es entbrannte der Krieg der al-Qaida gegen die sunnitischen Stämme, die es gewagt hatten, ihre Provinzen von den irakischen und ausländischen Dschihadisten zu „säubern“. Parallel dazu war die sunnitische Elite des Irak längst zu der Erkenntnis gelangt, daß sie durch ihren Widerstand gegen den Systemwechsel an Macht verloren hatte. Die politische Teilhabe war von nun an unabdingbar.

So wie die Sunniten eine Segmentierung erfuhren, stellt man auch bei der Bevölkerungsmehrheit der irakischen Schiiten und den nordirakischen Kurden fest, daß es sich um keine monolithischen Blöcke handelt. Ensprechend waren die Schiiten bereits vor den Märzwahlen in drei Blöcke aufgeteilt. Amtsinhaber al-Maliki führte das Wahlbündnis „Rechtsstaat“ an. Dieses Bündnis drückt die Interessen seiner Partei der „Islamischen Dawa“ (Islamische Mission) aus. Dawa ist die Partei der schiitischen urbanen Schichten, die als Regierungspartei eine rechtsstaatliche Ordnung schaffen wollten. Ihr gegenüber ist die von Muqtada al-Sadr und Amar al-Hakim angeführte „Irakisch Nationale Koalition“, die als proiranisch gilt. Al-Sadr machte sich nach 2003 einen Namen als Führer der schiitischen deklassierten Schichten, die sich al-Mahdi-Armee nannten. Al-Hakim vertritt dagegen die Interessen der traditionellen, ländlichen schiitischen Schichten.

Das nach dem eigenen Verständnis nicht ethnisch-konfessionell orientierte Irakische Bündnis Irakija unter Führung des ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Iyad Alawi gewann nun vor knapp sieben Monaten 91 Parlamentssitze. Alawi, dessen Wahlbündnis sich als Sieger deklarierte, könnte nun theoretisch den Auftrag zur Regierungsbildung übernehmen. Doch die politischen Kräfte des Irak sind derart zerstritten, daß sie sich nicht einmal über einen politischen Fahrplan verständigen können.

Die Schiiten können sich weder auf al-Maliki noch auf eine andere Person einigen, weil grundlegende Differenzen über das Programm und über das Personal vorliegen. Iyad Alawi könnte höchstens die Stimmen des kurdischen Bündnisses (43 Sitze) gewinnen, hätte aber dennoch keine Mehrheit im Parlament. Gegen die beiden schiitischen Blöcke von al-Maliki (89 Sitze) und al-Sadr/al-Hakim (70 Sitze) kann keine Regierung gebildet werden.

Doch selbst die Kurden sind kein einheitlicher Block mehr. Entsprechend müssen die beiden großen Parteien, die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und die Patriotische Union Kurdistan (PUK), die die kurdische Region seit 1991 regieren und nach Lesart vieler Unzufriedener ein System von Korruption und Vetternwirtschaft etabliert haben, neuerdings ihre Positionen gegenüber der wachsenden Kritik von Dissidentengruppen, wie der 2008 entstandenen „Goran“(Wechsel)-Bewegung verteidigen.

Angesichts der Unübersichtlichkeit vertreten nun viele Iraker nicht zu Unrecht die Ansicht, daß die Nachbarstaaten des Irak den politischen Prozeß und die Bildung einer neuen Regierung bewußt blockieren. Und tatsächlich unternahmen die Nachbarstaaten alles, um den Wandel im Irak zu konterkarieren. So duldete Syrien zumindest die Infiltration arabischer al-Qaida-Kämpfer in den Irak. Zudem war und ist eine Demokratisierung des Irak unter der Bedingung amerikanischer Präsenz das letzte, was das alawitische Minderheitenregime in Syrien sich wünschen würde. Die Saudis waren und sind vor der Gefahr der Entstehung eines schiitischen Staates im Irak derart erschrocken, daß sie alle Entwicklungen, die diese Gefahr verhindern könnten, willkommen heißen.

Auch die Türkei findet immer wieder Gründe, sich gegen die Aufwertung der irakischen Kurden als einen wichtigen politischen Faktor zu stellen. Denn der Föderalismus, den die Kurden im Irak durchgesetzt haben, könnte als Modell für die Kurden in der Türkei dienen. Zudem stellen die Stützpunkte der Arbeiterpartei Kurdistans-PKK im Nordirak eine ständige Gefahr für die türkische Sicherheit dar.

Vor diesem Hintergrund kommt es daher nicht besonders überraschend, daß sowohl Syrien, Saudi-Arabien als auch die Türkei die Kandidatur Alawis unterstützten. Er symbolisiert nach ihrer Lesart die Stärkung der arabischen Nationalisten, die die erklärten Gegner des Föderalismus, des Konfessionalismus und der Ethnizität sind. Darüber hinaus waren sie – zumindest in der Vergangenheit – ein Bollwerk gegen die iranischen Einfluß- und Expansionsgelüste.

Wenn aber nun der Iran die Vormacht im Irak sein sollte, stellt sich die Frage nach den Ursachen, die die vermeintlichen Verbündeten des Iran, die Schiiten, bislang daran hinderten, eine Regierung zu bilden. Erklärungsansätze gibt es genug. Oft wird behauptet, daß ein stabiler Irak und zumal ein demokratischer Irak nicht im Interesse des Iran liegen kann, da der Iran seine Vormachtstellung nur bei einem schwachen Irak aufrechterhalten könne. Die Vertreter dieser These gehen von dem Primat der nationalen Interessen des Iran aus. Mit anderen Worten: Nicht die konfessionelle Solidarität, sondern die nationalen Interessen bestimmen die Politik Irans gegenüber dem Nachbarn.

Der Glanz der US-Mission ist längst verblaßt

Wenn die Nachbarstaaten durch ihre Einflußnahme die Bildung einer irakischen Regierung bislang erschwert haben, warum haben aber dann die USA ihre politischen und wirtschaftlichen Machtinstrumente nicht eingesetzt, um eine Regierungsbildung zu erzwingen? Tatsächlich haben die USA im Juli, als sich die Bildung einer neuen Regierung als besonders schwierig erwies, ihre Truppen gemäß dem amerikanisch-irakischen Vertrag von 2008, abgezogen. Alle Anzeichen sprechen deshalb dafür, daß die Obama-Administration den Vertrag mit dem Irak unbeirrt umsetzen möchte.

So scheint es, daß die Irak-Episode der USA beendet ist. Infolgedessen hat die Agenda der USA von der Demokratisierung des Vorderen Orients erheblich an Glanz verloren. Unter der Obama-Administration hat der Aufbau des Irak als Modell für die arabische Welt keine Relevanz mehr.

Die Mission Demokratisierung ist gescheitert. Und so ist die Krise um die Umsetzung der Ergebnisse der Märzwahl nur allzu symptomatisch für ein Land, das durch einen Krieg ein neues politisches System erhielt, das keine große Akzeptanz fand. Der an der Baltimorer Johns Hopkins Universität lehrende libanesisch-amerikanische Professor Fouad Ajami nennt dies bezeichnend „The Foreigner’s Gift“.

 

Prof. Dr. Ferhad Ibrahim ist Gastprofessor am Lehrstuhl für westasiatische Geschichte an der Universität Erfurt.

Foto: Irakerinnen auf dem Weg zur Wahl (7. März): Auch sieben Monate später gibt es noch keine Regierung

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