© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

„Für mich ist es der wichtigste Tag!“
Er unterschrieb den Vertrag, der Deutschland wiedervereinigte. Günther Krause, später Bundesverkehrsminister, über die Einheit, Konservatismus und den „Aufbau Ost“
Moritz Schwarz

Herr Professor Krause, der deutsch-deutsche Einigungsvertrag besiegelte vor zwanzig Jahren die Wiedervereinigung. Sie waren als Unterhändler für die DDR eine der beiden Persönlichkeiten, die den Vertrag mit ihrer Unterschrift in Kraft setzten.

Krause: Unter der Führung von Wolfgang Schäuble für die Bundesrepublik Deutschland und mir für die erste demokratisch gewählte Regierung der DDR wurde der Vertrag verhandelt und am 31. August unterzeichnet, um am 3. Oktober 1990 in Kraft zu treten. Der Moment der Unterzeichung war für uns beide sehr bewegend. Damit war Deutschland wiedervereinigt. Überlegen Sie, was das bedeutete: Als wir etwa zur Unterzeichung nach Bonn geflogen sind, mußten wir noch in Schönefeld starten, weil die Alliierten uns nach wie vor verboten haben, Berlin zu passieren – es galt noch das Potsdamer Abkommen. Für mich als jungem Mann, ich war 36, war das natürlich eine Sache von wirklich unwahrscheinlich großer Verantwortung. Wir haben einige kritische Situationen auf dem Weg zur deutschen Einheit durchmachen müssen, und ich bin froh und stolz, daß es uns gelungen ist, einen Vertrag zu machen, der für beide Seiten akzeptabel war.

Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck nannte die Wiedervereinigung jüngst „Anschluß“.

Krause: Wenn heute Leute wie Herr Platzeck versuchen, die Deutsche Einheit niedrig zu reden, dann finde ich das eine riesen Sauerei! Vielleicht darf ich ihn daran erinnern, daß etwa achtzig Prozent der Wähler in der ehemaligen DDR den Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz zur Bundesrepublik Deutschland wollten! Und vielleicht darf ich ihn daran erinnern, daß zum Beispiel die Hochwassersicherheit in Brandenburg nicht die DDR, sondern die Bundesrepublik Deutschland inzwischen hergestellt hat. Brandenburg hätte das niemals alleine – mit dem sozialistischen Erbe unserer Infrastruktur – in so relativ kurzer Zeit schaffen können. In puncto Infrastruktur behaupte ich sogar, daß diese in den neuen Ländern heute im Durchschnitt besser ist als in den alten. Deshalb sage ich danke dafür, wie die deutsche Einheit historisch gelaufen ist. Heute muß man sagen, Helmut Kohl hat mit seinem Wort von den „blühenden Landschaften“ am Ende doch recht gehabt!

Nicht wenige Kommentatoren meinen allerdings, die politischen „Laienspieler“, die durch die friedliche Revolution in der DDR dort an die Macht gekommen waren, wurden von den mächtigen Polit-Profis aus dem Westen glatt über den Tisch gezogen.

Krause: Das ist so ein Klischee von Journalisten, die lieber ihren Vorurteilen folgen statt den Fakten. Es ist bis heute schick, die „Ossis“ als blöd und die „Wessis“ als abgefeimt darzustellen. Tatsächlich  haben wir, also die DDR-Seite, damals den ersten Vertragsentwurf vorgelegt, damit war unser Entwurf Grundlage der weiteren Verhandlungen. Und übrigens gab es Punkte, bei denen wir so hart verhandelt haben, daß der Vertrag daran hätte scheitern können.

Zum Beispiel?

Krause: Nehmen Sie etwa die Frage des – laut DDR-Sprache – Schwangeren-Unterbrechungsrechts, beziehungsweise des – gemäß BRD-Sprache – Abtreibungsrechts.

Sie haben damals dafür gesorgt, daß Abtreibung teillegalisiert wurde. Ist das nicht ein zweifelhaftes Verdienst?

Krause: Warum?

Sie waren Christdemokrat ...

Krause: Christ, aber eben auch Demokrat: Von den etwa achtzig Prozent der Frauen, die uns gewählt haben, hat eine Mehrheit das als ihr Interesse betrachtet. Natürlich, die Mehrheit der westdeutschen Bundestagsabgeordneten hatte die Vorstellung: Wenn die den Sozialismus abschaffen wollen, wollen sie doch auch das DDR-Frauenbild abschaffen. Aber dem war nicht so, denn die Berufstätigkeit der Frau, wie es so schön in der DDR hieß, hat natürlich mit der Aufgabe der Frau in der Familie, wie das damals im Westen noch der Schwerpunkt war, nicht viel gemeinsam. Und so wurde bis morgens zwei Uhr des 31. August, des Tags der Unterzeichnung, verhandelt und dann die Formel festgelegt, für die vor allem Wolfgang Schäuble dann noch viel Prügel bekommen hat: Erst existierten beide Systeme noch parallel, dann wurde 1995 der endgültige Kompromiß geschlossen, eine Fristenregelung mit Beratungspflicht. Das Frauenbild in Deutschland hat sich durch die Einheit maßgeblich geändert, denn schließlich wurde das Frauenbild des Ostens als das fortschrittlichere erkannt. Was sich schließlich auch in der Familienpolitik der Westdeutschen Ursula von der Leyen und unserer ostdeutschen Bundeskanzlerin niedergeschlagen hat.

Dann hatte Bischof Walter Mixa ja recht, als er Ursula von der Leyen 2007 eine sozialistische Familienpolitik attestierte.

Krause: Nein. Ich spreche nicht von der Übernahme eines sozialistischen Weltbildes, sondern davon, daß Einflüsse aus West und Ost zusammengeführt und im Laufe von zwanzig Jahren zu veränderten Verhältnissen geführt haben. Das Frauenbild der DDR hat die Entstehung des heutigen maßgeblich beeinflußt, habe ich gesagt, nicht daß beide identisch sind.

Sie galten nach 1990 für einige als konservativer Hoffnungsträger. Wie paßt das zu Ihrem Lob für sozialistische Einflüsse in unserer Gesellschaft?

Krause: Ich bin Realist, verstehen Sie? Konservativ bedeutet für mich, das vom Alten zu bewahren, was besser ist als das Neue. Aber auch Modernisierer zu sein mit Blick auf das Wesentliche.

Das würde Frau Merkel auch so sagen. Sind Sie so konservativ wie Frau Merkel?

Krause: Oh, ich denke, daß ich ein bißchen konservativer bin.

Inwiefern?

Krause: Zum Beispiel, wenn ich nicht konservativ wäre, hätte ich nicht das beschleunigte Planungsrecht in Deutschland durchgesetzt.

Das müssen Sie bitte erklären.

Krause: Beispiel: Wir hatten 1990 in den neuen Ländern viel grüne Wiese, aber kaum Autobahnen, im Westen dagegen viele Autobahnen und vergleichsweise wenig grüne Wiese. Wie kann also das Umweltrecht des Westens gleichermaßen für die neuen Länder gelten? Mit solchen Fragen habe ich mich damals schon über das, was damals politisch korrekt war, hinausgewagt. Doch 1990 gab es so etwas wie einen Verkehrsnotstand in den neuen Ländern. Das westdeutsche Planungsrecht, das in einem verkehrstechnisch erschlossenen Raum weiter auf den Schwerpunkt Umweltschutz hinentwickelt worden war, nun einfach zu übernehmen, wäre unverantwortlich für die Entwicklung der Infrastruktur in den neuen Ländern und damit für deren Entwicklung insgesamt gewesen. So beinhaltete etwa das Raumordnungs- und Linienbestimmungsverfahren, daß dreimal die Umweltverträglichkeit geprüft werden muß – dreimal zwölf Monate! Ich habe durchgesetzt, daß es bei einer Prüfung bleibt. Dann habe ich im beschleunigten Planungsrecht für die neuen Länder etwa eingeführt, daß ein Beamter nicht mehr beliebig viel Zeit, sondern genau vier Wochen hat, sich zu äußern. Tut er das nicht, gilt das als Zustimmung. Das nenne ich konservatives Denken: Ich habe ja nicht die Umweltverträglichkeitsprüfung an sich abgeschafft, sondern nur den Unsinn, dreimal die Frosch-Population zu zählen und sich zu wundern, daß immer das gleiche dabei rauskommt und darüber zwei Jahre zu verlieren! So sind wir zu Planungszeiten gekommen, zwischen einem halben und fünf Jahren, wodurch der Aufbau Ost erst in vieler Hinsicht möglich wurde. Wäre ich kein konservativer Politiker gewesen, hätte ich das nicht geschafft. 

Sie waren mit Alfred Dregger befreundet, der hätte konservativ zweifellos über einen Wertekanon definiert.

Krause: Wenn ich etwas bedauere, dann daß heute über eine Persönlichkeit wie Alfred Dregger nicht mehr gesprochen wird. Dregger hat mich 1990 zu Hause in Bad Doberan besucht, wir sind dann in den Dorfkrug gegangen und natürlich haben alle Dregger erkannt. Jemand holte seine Mundharmonika hervor und das Deutschlandlied wurde gespielt. Das war ein Erlebnis! Man sollte heute fairerweise sagen, daß Alfred Dregger einer der standhaftesten deutschen Politiker war und großen Anteil an der deutschen Einheit hat, weil er immer offensiv dafür eingetreten ist. Seine Art von Nationalverständnis und Patriotismus finde ich einfach toll!

Zum Beispiel?

Krause: Ich bin überzeugt, es muß zukünftig das Ziel sein, daß wir uns als Deutsche in der Europäischen Union wieder als selbstständige Nation behaupten. Ich sage aber auch, das steht nicht in Widerspruch zur europäischen Integration. Helmut Kohl hat immer gesagt – und Dregger hat ihm da zugestimmt –, durch die europäische Integration ist Europa wesentlich friedlicher geworden. Allerdings, so unzweifelhaft es ist, daß NS-Deutschland die Schuld am Ausbruch des Krieges hat, müssen wir doch auch lernen, wieder stolz auf unsere sonstige Vergangenheit zu sein. Auch die Franzosen zum Beispiel hatten Zeiten, in denen sie Tod und Vernichtung über Europa gebracht haben, was ihrem Patriotismus aber keinen Abbruch tut.

Sie sollen 1991 in einem Bonner Lokal einmal das Deutschlandlied gespielt haben.

Krause: Am Abend nach Verabschiedung des beschleunigten Planungsverfahrens haben wir kräftig gefeiert. Ich habe mich um Mitternacht ans Klavier gesetzt und zum Zapfenstreich die „Hymne der Deutschen“ angestimmt. Einer meiner Staatssekretäre, der mich nicht leiden konnte, hat mich daraufhin bei Journalisten denunziert. Vorwurf: Der hat das Deutschlandlied gespielt!

Ist das nicht ein absurder Vorgang?

Krause: Natürlich. Aber als ich 1991 meinen Plan für ein Investitionsmaßnahmengesetz vorgestellt habe, wurde ich im Spiegel mit Adolf Hitler verglichen. Nicht wengier absurd, aber so war es! Ich galt halt als Konservativer und da hat man mir vieles angekreidet. 

Sie sollen sich in Bonn auch offen über die Qualität der westdeutschen Politiker lustig gemacht haben.

Krause: Ohne schlechtes Gewissen, nachdem wir zuvor als „Laienspieler“ und ähnliches bezeichnet worden waren. Wissen Sie, wir kamen aus einem vergleichsweise repräsentativen Parlament nach Bonn, denn in der letzten – frei gewählten – Volkskammer gab es wirklich die unterschiedlichsten Berufsgruppen. In Bonn fanden wir dagegen ein Parlament vor, das von Berufspolitikern und Beamten dominiert war. In unserer Volkskammer hat es zum Beispiel auch nie gegeben, daß jemand mit der „richtigen“ Stimmkarte dastand, damit die Fraktionsmitglieder wissen, wie sie abzustimmen haben. Wir hatten einfach eine andere Auffassung von Demokratie. Schon Begriffe wie Fraktionsabsprache, -zwang oder -disziplin hat es bei uns nicht gegeben, denn das widerspricht der Freiheit des Abgeordneten, der ja Vertreter des Volkes sein soll. Ich habe den Fehler gemacht, zu solchen Dingen unbefangen meine Kommentare abzugeben, ohne mir klarzumachen, daß man damit im etablierten Politikbetrieb unangenehm auffällt. Aber ich habe mich eben nie politisch korrekt verhalten, so wie das von den Einheitsgesichtern heute verlangt wird.

Womit wir beim Thema Tabu und damit bei Thilo Sarrazin wären.

Krause: Sicher, Sarrazin ist in manchen Fragen abgeglitten – Stichwort Genetik –, andererseits können Journalisten jemandem, den sie reinlegen wollen, Fragen in einer bestimmten Form stellen und diese später vernachlässigen, wodurch die Antwort in einem anderen Licht erscheint. So ist es Sarrazin ergangen und das bedaure ich sehr. Denn klar sein muß, wenn ich ins Ausland gehe, muß ich mich den Regeln dort anpassen und umgekehrt: Ich dulde in meinem Haus keine Gäste, die sich danebenbenehmen. Natürlich kann man auch über den ein oder anderen Punkt verhandeln, aber insgesamt kann nicht der Mieter die Hausordnung bestimmen. Das ist unser Problem, daß wir Integrationsverweigerer nicht so wie andere Länder auch behandeln.

Was heißt?

Krause: Die müssen sich dann eben eine andere Heimat suchen.

Ist die CDU unter Angela Merkel, die Sarrazin auch für solche Forderungen heftig kritisiert hat, noch eine Heimat für Konservative?

Krause: Zumindest gibt es für uns – trotz aller Kritik – keine bessere.

Das sieht Erika Steinbach wohl anders.

Krause: Man darf nicht vergessen, daß Frau Merkel eine Volkspartei zusammenhalten muß. Bei aller Wertschätzung für Alfred Dregger, aber würde Merkel konservative Politik machen im Stile wie hessische Wahlkämpfe unter ihm noch geführt wurden – ich sage Ihnen, sie würde abgewählt werden!

Offenbar sehen das immer mehr Bürger nicht unbedingt so, die Rufe nach einer neuen konservativen Partei werden immer lauter.

Krause: Ich sage, wer unzufrieden ist, der soll in die CDU eintreten und sie verändern!

Viele Vertriebene sind nicht nur über den Umgang der CDU mit Erika Steinbach enttäuscht, sondern womöglich auch über Ihren Einigungsvertrag, da die ehemaligen deutschen Ostgebiete mit der Einheit unter den Tisch gefallen sind.

Krause: Ich bitte Sie, wer 1990 noch ernstlich geglaubt hat, es wäre möglich, die zweifellos traurigen Folgen des Zweiten Weltkriegs rückgängig machen zu können, dem ist politisch nicht zu helfen.

Es gab keine Ausgleichsleistung für die Vertriebenen: weder etwa politische Unterstützung bei der Privat-Restitution von Eigentum in den Ostgebieten, noch ein Versprechen, darauf zu drängen, die Aufhebung der Benes-Dekrete zu erreichen, noch ein Zentrum gegen Vertreibungen an zentraler Stelle in Berlin als im Einigungsvertrag festgelegtes Ziel, nichts.

Krause: Man muß die Kirche im Dorf lassen. Die Idee von Helmut Kohl – und da unterstütze ich ihn voll – war und ist das Konzept von lebendigen Landschaften in Europa, und das ist auch Versöhnung.

Bundesrepublik und DDR waren bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit vertreten. Hätte nicht, wenn es schon eine historische Lösung für ganz Deutschland sein sollte, auch ein Vertreter für die Ostgebiete mit an den Verhandlungstisch gehört?

Krause: Nein, und zwar aus drei Gründen: Erstens, der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die Voraussetzung für den Einigungsvertrag geschaffen hat, hatte auch keinen solchen Vertreter mit am Tisch. Zweitens, der Einigungsvertrag wurde ja auf der Basis eines bevorstehenden Beitritts durch einseitige Entscheidung eines Partners, nämlich der DDR, gemacht. Ich habe aber keinen Partner gesehen, der in den ehemaligen deutschen Ostgebieten die Mehrheit für einen Beitritt zur Bundesrepublik hätte organisieren können. Und drittens hatte Helmut Kohl mit seiner Strategie recht, daß durch die deutsche Einheit das Verhältnis zu Polen genauso zu entwickeln sei wie das Verhältnis zu Frankreich, und daß damit die landsmannschaftlichen Probleme in Europa lösbar werden. Denn dahinter stand die Einsicht, daß wir als Deutsche diese im Alleingang nicht mehr würden lösen können, weil der Krieg nun mal so geendet hat, wie er geendet hat, und daher jedes Beharren unsererseits zu nichts als Stillstand führen würde.

Ebenfalls enttäuscht von Ihrem Einheitsvertrag sind die Enteignungsopfer.

Krause: Der Zweite Weltkrieg läßt sich nicht rückgängig machen und die Bodenreform auch nicht.

Warum nicht die Bodenreform?

Krause: Sie müssen das historisch sehen: Man kann nicht Unrecht durch anderes Unrecht gutmachen.

Die organisierten Enteignungsopfer verzichten in privaten Fällen auf Rückgabe, ihnen geht es allen um die Güter, die der Staat – gerichtsfest formuliert: in „hehlerischer“ Absicht – an sich gebracht hat und deren Rückgabe keinen Dritten schädigen würde.

Krause: Wir haben damals eine Vermögensregelung verhandelt, in der wir festgelegt haben, daß die Betroffenen in Form einer Ausgleichsleistung berücksichtigt werden sollen. Allerdings konnten die Formeln dafür unmöglich in den damals zur Verfügung stehenden acht Wochen bis zur Unterzeichung des Einheitsvertrages festgelegt werden.

Dieses Versäumnis hat das folgende Unrecht möglich gemacht.

Krause: Ich bitte Sie, recherchieren Sie im Deutschen Bundestag: Ich habe mich sogar später dafür eingesetzt, ein sogenanntes Ausgleichszertifikat zu entwickeln. Wir wollten in logischer Fortsetzung des Einigungsvertrages, daß ein zertifiziertes Ausgleichsrecht die Betroffenen entschädigt. Das ist dann aus einer Reihe von Gründen leider nicht passiert.

Warum nicht?

Krause: Das kann ich Ihnen gar nicht sagen, jedenfalls hat es die Politik nicht vermocht, diesen Lösungsansatz umzusetzen. Aber ich wiederhole: Logische Konsequenz aus Anlage 3 des Einigungsvertrages wäre es gewesen, ein solches Ausgleichszertifikat zu definieren. Damit hätten die Opfer ein verbrieftes Recht gehabt, entweder Land, wenn auch nicht unbedingt ihr eigenes, zu bekommen, oder mit dem Zertifikat zu handeln. Leider gehört das aber heute zu den rund 2.500 Regelungen, die der Einigungsvertrag eigentlich anders vorgeschrieben hat, als sie dann später umgesetzt worden sind. Denn etwa beim Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG) ist ja nur der Name übriggeblieben, aber nicht der Gedanke einer Ausgleichsleistung. Schuld ist aber nicht der Einigungsvertrag, sondern der Deutsche Bundestag.

Vorwerfen lassen müssen Sie sich allerdings auch, daß der Vertrag eine angemessene Entschädigung der Stasi-Opfer versäumt hat.

Krause: Auch das stimmt nicht. Im Vertrag steht, daß später eine Entschädigung festzulegen ist.

Eben, und das ist erst knapp zwanzig Jahre später passiert. Sogar Angela Merkel hat das jüngst als Trauerspiel bezeichnet. 

Krause: Womit sie auch recht hat. Ihr Vorwurf an uns ist aber nicht gerechtfertigt. Wir konnten nicht alles festlegen, und es war aus damaliger Sicht absolut vertretbar, mit der Lösung des Problems ein gesamtdeutsches Parlament zu beauftragen. Das dieses dann fast zwei Jahrzehnte dafür brauchen würde, das konnten wir beim besten Willen nicht ahnen. Auch das gehört zu den 2.500 Regelungen des Vertrages, die später vom Gesetzgeber nicht richtig gelöst worden sind.

Ihr Fazit?

Krause: Gut, zugegeben: Wir hätten hier und da besser sein können, aber ich sage dennoch, daraus läßt sich nicht schließen, daß die deutsche Einheit kein Erfolg ist. Wir haben in Deutschland die Angewohnheit, immer das Negative zu suchen. Ich sage dagegen: Ich freue mich über die Einheit! Neben meinem Hochzeitstag ist der Tag der Deutschen Einheit für mich der wichtigste Tag des Jahres, den ich dieses Jahr zusammen mit meiner Frau und Angela Merkel  in Bremen begehen werde. Die Wiederherstellung des Vaterlandes war ein patriotischer Akt, und ich bin stolz, daß ich meinen Teil dazu leisten konnte.

 

Prof. Dr. Günther Krause, Bundesminister a. D. (CDU), kein Politiker der deutschen Einheit war so umstritten wie er: Günther Krause. Er verhandelte und unterzeichnete den Einigungsvertrag, der Deutschland die Wiedervereinigung brachte, und machte sich später als Bundesverkehrsminister im ersten gesamtdeutschen Kabinett um den „Aufbau Ost“ verdient. Dann wurde er zum „Skandalminister“ der Regierung Kohl und mußte nach einer Reihe von Vorwürfen schließlich zurücktreten, wurde vor Gericht verurteilt und leistete einen Offenbarungseid. Geboren 1953 in Halle/Saale trat der Ingenieur 1975 der Blockpartei CDU bei und war zuletzt Kreis- und Bezirksvorsitzender. 1990 holte Lothar de Maizière, erster demokratischer Ministerpräsident der DDR, den Vorsitzenden der gemeinsamen Fraktion von CDU und Demokratischem Aufbruch (DA) in der ersten frei gewählten Volkskammer als Parlamentarischen Staatssekretär ins Staatsministerium und beauftragte ihn, für die Regierung der DDR die Verhandlungen über den „Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands“ zu führen. Nach der Wiedervereinigung und den ersten gesamtdeutschen Wahlen am 2. Dezember 1990 wurde Krause, inzwischen Landesvorsitzender der CDU in Mecklenburg-Vorpommern, Mitglied des Bundestages und Bundesminister für besondere Aufgaben, 1991 für Verkehr. 1993 führten die „Raststätten-“ sowie die „Putzfrauen-Affäre“ zu seinem Rücktritt. Dazu Krause, mittlerweile erfolgreicher Unternehmer in Brandenburg/Havel, heute: „Ich habe 27 Straftatvorwürfe mit 25 Freisprüchen pariert, und in den letzten zwei bekomme ich auch noch recht!“ 

Fotos: Der Einigungsvertrag: „Zu versuchen, die Einheit niedrigzureden, ist eine Sauerei! ... Die Wiederherstellung des Vaterlandes war ein patriotischer Akt, und ich bin stolz, meinen Teil dazu beigetragen zu haben.“, Unterzeichner Schäuble, Krause (r.): „Der Vertrag hätte auch noch scheitern können“

 

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