© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Ein Marsch ins Ungewisse
Lage der Bundeswehr: Die Aussetzung der Wehrpflicht ist der Höhepunkt einer langen Kette von Fehlentscheidungen
Karl Feldmeyer

Welche Motive Verteidigungsminister zu Guttenberg letztlich veranlaßt haben, ohne jedes Zögern, ohne jeden Versuch einer Korrektur die Forderung von Finanzminister Schäuble zu akzeptieren, bis 2013 die Summe von 8,3 Milliarden Euro einzusparen, wissen wir nicht. Eine der Folgen aber ist absehbar: Regierung und Parteien müssen die Frage nach der Raison d’être der Bundeswehr neu beantworten. Der einfachen Frage: „Wozu ist die Bundeswehr da, was muß sie können und welche Mittel benötigt sie dafür?“ wird die Politik nicht länger ausweichen können.

Verteidigungsetat als Steinbruch der Politik

Bis 1989 war all dies klar, rechtlich und politisch. Ein Blick ins Grundgesetz zeigt den Handlungsrahmen auf, der bis heute unverändert gilt. Artikel 87a stellt fest: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. (...) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.“

Das schließt den Aufbau von Streitkräftestrukturen aus, die nicht zur Verteidigung, sondern zu anderen Zwecken dienen sollen. Wie eng das Grundgesetz  den Verteidigungsauftrag auslegt, besagt der Artikel 115a. Er stellt klar, daß der Verteidigungsfall erst dann vorliegt, wenn der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats festgestellt hat, „daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht (Verteidigungsfall)“.

Mit diesem Auftrag hatte die Bundeswehr bis zur Wiedervereinigung keine Probleme. Ihre Beschränkung auf den Verteidigungsfall entsprach präzise dem, was Parlament und Bevölkerung wollten. Verfassungsrecht, der Wille der Politik und der Bevölkerung waren in diesem Punkt deckungsgleich. Dieser Konsens änderte sich mit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Unverändert blieben der Auftrag des Grundgesetzes und die Einstellung der Bevölkerung. Die Politik sah sich dagegen gezwungen, der veränderten außen- und bündnispolitischen Lage und dem Erwartungsdruck der Nato-Verbündeten  zu entsprechen.

Dies lief darauf hinaus, sich an internationalen militärischen Einsätzen der Verbündeten zu beteiligen. Es begann mit einem Sanitätseinsatz in Kambodscha und führte über den Kosovo nach Afghanistan. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli 1994 öffnete dazu rechtlich den Weg.

Mit diesen Einsätzen war zugleich eine fundamentale Veränderung der Bundeswehr verbunden. Obwohl nach dem Soldatengesetz alle Soldaten gleiche Pflichten haben, wurden nun zwei Kategorien geschaffen: Berufs -und Zeitsoldaten sowie freiwillige Wehrpflichtige, die in Auslandseinsätze geschickt werden können, und die normalen Wehrpflichtigen, die dafür nicht herangezogen werden dürfen. Mit dieser Entscheidung waren die Wehrpflichtigen für die Bundeswehr von einer Stütze zu einer Belastung geworden. Sie müssen ausgebildet werden, binden Ausbilder und kosten Geld – sind aber für die derzeit wichtigste Aufgabe der Bundeswehr, die Auslandseinsätze, nicht verwendbar.

Bis 1989 war die Aufgabe der Bundeswehr als Verteidigungsarmee klar. Die Auslandsmandate der neunziger Jahre haben sie fundamental verändert. Statt den Funktionswandel finanziell zu unterfüttern, nutzt die Politik den Verteidigungsetat als Steinbruch. Zudem ist ihre Finanzausstattung ein chronisches Problem für die Bundeswehr. Schon zu Zeiten des Kalten Krieges waren Regierung und Bundestag nicht bereit, der Armee die Mittel zur Verfügung zu stellen, die sie für nötig hielt. Dieses Problem verschärfte sich nach der Wiedervereinigung drastisch. Der Verteidigungshaushalt wurde zur Verfügungsmasse. Obwohl der Umfang der Bundeswehr auf rund 250.000 Mann halbiert wurde, reicht das Geld heute weder dazu, den Soldaten in Afghanistan das zu geben, was sie benötigen, noch dazu, die verbliebenen Verbände einsatzfähig zu erhalten.

Das war die Lage, die zu Guttenberg vorfand, als er 2009 Verteidigungsminister wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint sein Vorschlag, auf die geforderte Zusatzeinsparung von 8,3 Milliarden Euro mit einer drastischen Verkleinerung der Bundeswehr um etwa 100.000 Mann zu reagieren, schlüssig. Das gilt auch für den beabsichtigten Verzicht auf die rund 50.000 Wehrpflichtigen. Schon die Entscheidung, die Dauer des Wehrdienstes von zwölf auf neun Monate abzusenken, machte die Wehrpflicht problematisch. Nunmehr konnten Wehrpflichtige nicht mehr als Funktionsträger sinnvoll eingesetzt werden, denn ihre Vollausbildung dauert neun Monate – und genau nach deren Abschluß wurden sie jetzt entlassen. Mit der schon beschlossenen Verkürzung auf sechs Monate ist nun nicht einmal mehr für die Vollausbildung ausreichend Zeit gegeben; von Übungen im Kompanie- oder gar Bataillonsrahmen, ohne die eine Einheit nicht einsatzfähig werden kann und ohne die es keinen Sinn macht, Wehrpflichtige in die Bundeswehr zu holen, gar nicht zu reden.

Mit der Aussetzung der Wehrpflicht befreit Guttenberg die Bundeswehr somit von Kosten, aus denen sie unter den gegebenen Umständen keinen Nutzen ziehen kann. Ursächlich für diese Fehlentwicklung – denn das ist der Verzicht auf Wehrpflichtige nicht nur aus militärischen, sondern vor allem aus politischen Gründen – ist somit die in der Koalitionsvereinbarung enthaltene Abmachung von CDU/CSU und FDP, die Wehrpflichtdauer auf ein halbes Jahr zu reduzieren.

Was der Wegfall der Wehrpflichtigen für die Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr und ihre Integration in die Gesellschaft bedeutet, dürfte bald deutlich werden. Die Gefahr, daß ihr qualifizierter Nachwuchs rasch fehlen wird und sie zu einer Freiwilligenarmee wird, deren Angehörige sich weitgehend aus der Unterschicht rekrutieren, die in der Wirtschaft keine Chance haben, ist groß. Das gleiche gilt auch für die gesellschaftliche Akzeptanz und Wertschätzung der Bundeswehr.

Desinteresse an der Bundeswehr wird zunehmen

Schon jetzt empfinden Soldaten, die in Afghanistan Leib und Leben riskieren, die Einstellung breiter Teile der Gesellschaft als enttäuschend. Demoskopen und Soziologen charakterisieren die Einstellung der Mehrheit zur Bundeswehr als „freundliches Desinteresse“. Es wird, soviel ist absehbar, unter den veränderten Rahmenbedingungen weiter wachsen.

Auch deshalb wäre es richtig, die Wehrpflicht nicht nur beizubehalten, sondern sie in eine allgemeine Dienstpflicht einzubetten. Das würde nicht nur Dienstgerechtigkeit und die Gleichbehandlung aller jungen Leute ermöglichen, sondern auch dem wachsenden Notstand in den sozialen Diensten spürbar abhelfen. Die Voraussetzungen dafür kann freilich nicht der Verteidigungsminister schaffen; hier sind die Regierung und die Parteien insgesamt gefordert.

Guttenbergs Absicht ist es, die Beseitigung von Mängeln in der Struktur der Streitkräfte mit ihrer Anpassung an die veränderten finanziellen Vorgaben zu verbinden. Dabei wird den aktuellen Herausforderungen, also den Auslandseinsätzen Vorrang vor dem Erhalt militärischer Fähigkeiten eingeräumt, die derzeit nicht zwingend benötigt werden. Aus der Verteidigungsarmee droht dadurch eine kleine Interventionsarmee für Auslandseinsätze zu werden.

Die fünf Vorschläge, die Guttenberg im Verteidigungsministerium erarbeiten ließ und die – bis auf einen – den Verzicht auf Wehrpflichtige und einen Bundeswehrumfang von etwas mehr als 150.000 Mann vorsehen, haben zumindest eine positive Wirkung: Sie konfrontieren die Politik mit den Konsequenzen, die ihre Kürzungsbeschlüsse haben. Das ist für Politiker unangenehm, insbesondere für die der Unionsparteien. Schließlich waren sie es, die unter Bundeskanzler Adenauer die Wehrpflicht durchgesetzt und die Bundeswehr aufgebaut haben.

Nun werden sie, die Enkel Adenauers, dafür verantwortlich sein, daß all dies „zurückgebaut“ wird. Es ist nicht auszuschließen, daß dieser Effekt zu Guttenberg gelegen kommt, weil er die Union   zur Selbstkorrektur veranlassen könnte.  Bislang gibt es zwar die Beschlüsse des CDU- und des CSU-Präsidiums über die Aussetzung der Wehrpflicht. Eine definitive Festlegung der Kanzlerin auf ein neues Konzept steht aus. Nun sollen sich die beiden Parteitage von CSU im Oktober und CDU im November festlegen – bevor ein Kabinettsbeschluß über Umfang und Struktur der neuen Bundeswehr gefaßt wird.

Inzwischen hat sich die SPD zu Wort gemeldet. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Beck fordert, die Musterung der Wehrpflichtigenjahrgänge nicht einzustellen und den Umfang der Bundeswehr nicht auf etwa 150.000 Mann abzusenken, sondern ihn bei 200.000 Mann zu belassen. Statt der nur 7.000 freiwillig Wehrdienst Leistenden, die zu Guttenberg für ausreichend hält, fordert Beck 25.000 Mann, die neun Monate Wehrdienst leisten. Das könnte dazu führen, daß die Union die Vorschläge des Verteidigungsministers ebenfalls noch nach oben korrigieren. Schon hat die designierte Spitzenkandidatin der CDU in Rheinland-Pfalz, Julia Klöckner, einen Umfang von 190.000 Mann zur Bedingung für ihre Zustimmung zur Aussetzung der Wehrpflicht gemacht. Daß sie dafür keine sicherheitspolitischen Gründe nennt, sondern den Wunsch, möglichst alle 36 Standorte zu erhalten, die die Bundeswehr in Rheinland-Pfalz unterhält, zeigt einmal mehr, welche Prioritäten für Politiker tatsächlich maßgebend sind. Es zeigt aber auch, daß das letzte Wort über die Zukunft der Bundeswehr noch nicht gesprochen sein dürfte.

All das verschafft Zeit zum Nachdenken. Nachdenken und Nachsteuern aber sind dringend erforderlich, denn die beabsichtigte Veränderung der Bundeswehr wäre höchst problematisch. Sie stünde im Widerspruch zu zentralen sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands und der Nato. Sollte die Bundesregierung – so wie es Guttenberg im Mai vor den Kommandeuren der Bundeswehr angedeutet hat – ihre Zusage zurückziehen, der Allianz im Bündnisfall eine Eingreiftruppe von 35.000 Mann zur Verfügung zu stellen, so würde das nicht nur den Einfluß der Allianz auf sicherheitsrelevante Vorgänge in Europa schwächen. Es würde ebenso den Einfluß, den Deutschland in der Nato hat, deutlich verringern.

Beides zu erhalten aber ist ein hochrangiges deutsches Interesse. Gewiß: Seit 2001 verdrängen Afghanistan und der Kampf gegen den Terror alle übrigen potentiellen sicherheitspolitischen Aspekte aus dem öffentlichen Bewußtsein. Sicherheitspolitik aber darf sich nicht an öffentlicher Wahrnehmung oder der Kassenlage orientieren. Sie hat sich an Realitäten, Risiken und Unwägbarkeiten auszurichten. Die dazu nötigen Mittel aufzubringen ist ein politisches Muß von hoher Priorität. Auf dem Spiel stehen die Bündnispflichten und die Glaubwürdigkeit der Nato. Das Bündnis kann nur so stark sein, wie es seine Mitglieder machen. Europa ist durch das Ende der Sowjet­union keineswegs ein Erdteil ohne Risiken geworden. An den Grenzen der Nato enden die Gewißheiten über politische wie militärische Risiken.

Mit der Aussetzung der Wehrpflicht verspielen ausgerechnet die Enkel Adenauers ihr letztes Erbstück. Die Verkleinerung und Umformung der Bundeswehr zu einer Freiwilligenarmee läuft den sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands zuwider. An der Ostgrenze von Nato und EU beginnt ein politisch instabiler Raum, von dem jederzeit Gefahren ausgehen können. Das muß die Nato berücksichtigen.

Die Glaubwürdigkeit der Nato steht auf dem Spiel

Mehr als drei Jahrzehnte haben sich die Bundesrepublik und ihre Verbündeten an der Erkenntnis orientiert, daß die Präsenz handlungsfähiger Streitkräfte ein wirksames Mittel ist, um den Umschlag politischer Spannungen in militärische Handlungen zu verhindern. Darin bestand das Abschreckungskalkül des Westens während des Kalten Kriegs.

Die Causa „Georgien“ hat einmal mehr gezeigt, daß Kriege immer wieder unerwartet ausbrechen können. Mögliche Brennpunkte gibt es in Europa zuhauf: Weißrußland, Moldawien, Transnistrien und die Ukraine sind instabile Regionen mit erhöhten Risiken und einer schwer kalkulierbaren Zukunft.Unsere Nato- und EU-Verbündeten, die baltischen Staaten und Polen, sind sich dessen weit stärker bewußt als der Westen Europas. Nicht ohne Grund: So verweigert Rußland seinem Nachbarn Estland bis heute sichere Grenzen durch die Weigerung, den fertig ausgehandelten   Grenzvertrag zu ratifizieren.

 Gewiß, das sind Spannungen, an die sich bislang keine akuten militärischen Befürchtungen knüpfen. Verteidigungs- und Handlungsfähigkeit der Nato aber sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß dies auch künftig so bleibt. Die Nato kann nur so lange stabilisierend wirken, wie ihre Handlungsfähigkeit glaubwürdig ist. Eine signifikante Verringerung der Kräfte, die Deutschland dem Bündnis bisher zugesagt hat, könnte zudem von anderen Nato-Staaten, die ebenso sparen müssen, als Rechtfertigung dafür genutzt werden, sich so wie sie zu verhalten. Das kann eine fatale Kettenreaktion auslösen, die der Allianz und ihren Mitgliedern gefährlicher werden könnte, als das, was in Afghanistan geschieht. Man kann nur hoffen, daß der Bundesregierung dies bewußt ist, wenn sie über die zweifellos notwendige Sanierung ihres Haushalts entscheidet.

 

Karl Feldmeyer war von 1976 bis 2004 Parlamentskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 1978 und 2006 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. 

 

Wehrpflicht in EU und Nato

Wehrpflicht ist sowohl im westlichen Europa als auch in den Nato-Staaten ein Auslaufmodell.  23 der 28 Staaten des Nordatlantischen Bündnisses verfügen mittlerweile über eine Berufsarmee. Auch 21 der 27 Staaten in der Europäischen Union verzichten auf die Einberufung von Wehrpflichtigen. Schweden ist bis dato das letzte Land, das Ende Juni 2010 sein Wehrsystem auf eine Freiwilligenarmee umstellte. Im EU-Rahmen setzen lediglich Deutschland, Österreich, Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland und Zypern auf die Einberufung von Wehrpflichtigen.  Das gleiche gilt für die Türkei im Nato-Rahmen.  www.bundeswehr.de

Foto: Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg besucht am 29. August den vorgeschobenen deutschen ISAF- Posten „OP North“ nahe Kundus/Afghanistan: Immer nah bei der kämpfenden Truppe

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