© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Pankraz,
Voltaire und die Meinungsfreiheit

Am meisten gesprochen wird über das, was man nicht hat – sagt der Volksmund. Nimmt man das ernst, muß man konstatieren, daß die Meinungsfreiheit hierzulande ein ganz rares Gut geworden ist. Denn die öffentlichen Wortmeldungen zum Thema „Meinungsfreiheit“ sind zur Zeit gewaltig. Die hinterhältige und ungenierte Art, wie der politisch-mediale Komplex den Dissidenten Sarrazin zum Schweigen bringen wollte und will, haben ganze Niagarafälle von Wörtern in Gang gesetzt. 

Selbst viele hochoffizielle Platzhalter, wie etwa Professor Leggewie vom „Zentrum für Medien und Interaktivität“, melden sich sanft mahnend zu Wort. Sie berufen sich dabei regelmäßig auf Voltaire, der angeblich gesagt habe: „Ich verdamme, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, daß du es sagen darfst.“ Zwar hat Voltaire in Wirklichkeit gesagt: „Du bist anderer Meinung als ich, und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen“, doch immerhin, die Richtung stimmt einigermaßen.

Indes, verdammenswerte Lautabgaben und wohl formulierte Meinungen sind trotzdem nicht dasselbe. Außerdem besteht ein gravierender Unterschied zwischen dem, was man sagen „darf“, und dem, worauf man ein „Recht“ hat. Indem die zugelassenen Gutmenschen, Voltaire verfälschend, Meinunghaben und bloßes Sichäußern sowie „ein Recht haben“ und „etwas dürfen“ zusammenwerfen, lenken sie bewußt von dem Problem ab, um das es in der Sarrazin-Affäre eigentlich geht.

Man tut wieder einmal so, als sei der Meinungsgegner eine Art randständiger Trottel, fast ein Fall für die Klapsmühle, auf jeden Fall „nicht ernst zu nehmen“. Man muß sich mit ihm an sich gar nicht befassen, muß ihn einfach ignorieren. Aber da er einen so großen Rückhalt im Volk hat und sich überall Zustimmung für ihn regt, geht das nicht mehr so leicht. Also gilt es, seine Meinung als Unmeinung zu denunzieren, als gewissermaßen vormenschliche, bequemer noch: unmenschliche „Stammtischäußerung“, die es nie und nimmer verdient, in den öffentlichen Diskurs einzutreten.

Zuzulassende „Meinung“ bestimmt sich in dieser Optik immer nur nach dem „Was“, das verhandelt wird. Ob jemand gute Argumente für sein „Was“ hat, ob er bedachtsam, faktenreich und logisch argumentiert, ob er sich dabei vielleicht sogar noch als charmant und wahrhaft kommunikativ erweist – all das spielt nicht die geringste Rolle. Was einzig zählt, ist, ob er sich in die jeweils herrschenden, von den „führenden“ Medien eingehämmerten Phrasen und Sollenssätze einfügt. Wenn nicht, geht sofort der Daumen nach unten.

Dabei besteht Meinungsfreiheit, wie sie Voltaire im Auge hatte, keineswegs aus Phrasendrescherei und dem Herunterrasseln von Sollenssätzen, andererseits auch nicht aus „freiem“ privatem Herumgerede etwa am Arbeitsplatz oder in der U-Bahn. Sicherlich, auch Voltaire war für schlichte Redefreiheit, also dafür, daß nicht hinter jeder Ecke ein Mitbürger horcht, der wie in alten Stasi-Zeiten bei jeder „ungehörigen“ Äußerung sofort beim Blockwart Meldung macht. Aber Meinungsfreiheit ist viel mehr als Redefreiheit, sie ist freier Austausch von echten „Meinungen“ zur bewußten Herbeiführung öffentlicher Diskurse.

So betrachtet, ist es tatsächlich schlecht bestellt um die Meinungsfreiheit im derzeitigen Deutschland. Vom berüchtigten Strafparagraphen 130 gegen „Leugner“ und „Verharmloser“ möchte Pankraz dabei gar nicht erst sprechen. Das Wort „Verharmlosung“ dort verfügt, daß man sich gewissen historischen Tatbeständen nur in einer einzigen, von den Behörden genau festgelegten Form annähern darf. Schon Nuancen von Sprache können Verbrechen sein und einen in den Knast bringen. Dergleichen hat es bei uns nicht einmal im angeblich so finsteren Mittelalter gegeben.

Doch auch sonst herrscht längst ein Geist des Konformismus und der Sprachregelung, der der Meinungsfreiheit alles andere als zuträglich ist. Man erinnere sich nur, wie Politik und Medien mit Sarrazin verfuhren, weil er einige beiläufige (und übrigens völlig harmlose) Bemerkungen über „Gene“ und ihren Einfluß auf intellektuelle Begabungen gemacht hatte. Schier wochenlang heulten sie gegen ihn an, in einer sich ständig steigernden Tonhöhe.

Höchst bezeichnend, wie dabei nicht im geringsten mehr zu unterscheiden war zwischen „links“ und „rechts“, SPD und CDU, Gabriel und Merkel. Sie heulten allesamt völlig unisono, so daß jeder Medienkonsument geradezu mit der Nase darauf gestoßen wurde, daß es im offiziellen Meinungsmilieu der Bundesrepublik nichts mehr zu differenzieren und nichts mehr herauszuriechen gibt und daß also auch jegliche Meinungsfreiheit abgeschafft ist. Wenn alle nur noch einer einzigen Meinung sind, gibt es keinen Meinungsaustausch mehr, nur noch ein kollektives Niederbrüllen einiger unzugehöriger Randexemplare.

In keinem anderen Land, schrieb neulich die Neue Zürcher Zeitung, würden heikle Fragen so konsequent verdrängt, würden so viele intellektuelle Tabus errichtet wie zur Zeit in Deutschland. Daraus entstehe ein geistiges Klima von „hysterischer Durchschnittlichkeit“. Es sei gerade nicht die oft behauptete „Zerrissenheit“, sondern die „dröge faktische Einförmigkeit“ deutscher Politik, welche die Hysterie in den Medien und die ewigen Hahnenkämpfe der Politiker erzeuge. „Deutsche Politiker (…) wissen genau, daß sie sich im Grunde nur geringfügig von ihren Rivalen unterscheiden, und das verleitet sie zum rhetorischen Overkill.“

Rhetorischer Overkill zum Fernsehfenster hinaus bei gleichzeitigem Austreten unerwünschter Meinungen in den Hinterzimmern von Verfassungsschutz und öffentlich-rechtlichen Kontrollgremien – so sieht in der Tat die praktizierte „Meinungsfreiheit“ in Deutschland aus. Voltaire hätte sich sehr gewundert. „Am Grunde eines Problems sitzt immer ein Deutscher“, notierte er einst. Heute würde er nur noch dröge Einförmigkeit und hysterische Durchschnittlichkeit vorfinden.

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