© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

CD: Volkslieder
Das Volk singt anderes
Jens Knorr

Ein Volkslied ist ein Kunstlied ist ein Volkslied. Das eine entsteht im Volke, geht von Mund zu Ohr zu Mund, wird aufgeschrieben und verkunstet, das andere entsteht im Kopf des Komponisten, der es aufschreibt, und geht von Mund zu Mund solange, bis es zum Volkslied entkunstet worden ist. „Wenn ich ein Vöglein wär“ ist nicht in der Vertonung durch Robert Schumann, „Heidenröslein“ und „Das Wandern“ sind nicht in den Vertonungen durch Franz Schubert und von Schuberts „Lindenbaum“ nur die erste Strophe Volkslied geworden. Im Kontext der „Winterreise“ ist der „Lindenbaum“ ein Kunstlied, da herausgerissen nur noch ein schubertähnliches Lied. Und Ludwig Höltys „Üb’ immer Treu und Redlichkeit“ auf der Melodie von Papagenos Arie ist nicht einmal mehr ein mozartähnliches.

So unscharf, wie uns das ein Essay von Melanie Unseld, Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg, nahelegen will, verläuft die Grenze zwischen Volks- und Kunstlied eben nicht. Im Volke wird anderes gesungen als das, was Volksliedsammler gerne hätten, das gesungen werden sollte. Ihre Sammlungen bewahren zu allermeist, was nicht mehr gesungen wird.

Melanie Unselds Essay ist Hauptstück einer Edition, die unter dem Titel „Wenn ich ein Vöglein wär“ (Sony Classical 88697700242) deutsche Kunstlieder versammelt, versehen mit „Persönlichen Vorworten“ einiger der beteiligten Sänger. Nicht die Wandlungen des Volkslieds durch die Jahrhunderte oder die wechselseitigen Spiegelungen von Volkslied und Kunstlied, sondern das unverbindliche Nebeneinander von Kunstliedern des 18. und 19. Jahrhunderts, welche Volkslieder sein wollen, ist Programm dieser Kompilation, der man einen kompetenten und durchsetzungsfähigen Produzenten vom Schlage Walter Legges gewünscht hätte.

Denn keine der Interpretationen ist exzeptionell, einige sind routinierter Pfusch. Den Opernton, den haben hier die Männer am Leib: Detlef Roth, Stefan Rügamer, Franz-Josef Selig, Günther Groissböck. Dem Volkston, einem kunstvoll kunstlosen Ton, den nur wenige Große beherrschen, kommen Katharina Kammerloher, Christiane Karg, Stella Doufexis, Annette Dasch und – die Männerehre rettend –  Christian Gerhaher, Klaus Florian Vogt und vielleicht noch Daniel Johannsen zumindest näher. Gepflegten Liedertafelton lassen das Vokalensemble Singer Pur aufleben und der Windsbacher Knabenchor mit der „Loreley“, jener Vertonung durch Friedrich Silcher (1837), die dem bekanntesten Gedicht Heinrich Heines die Ironie völlig ausgetrieben hat.

Aber wenn Annette Dasch, sich auf der Klampfe selbst begleitend, gemeinsam mit vier Pfadfinderinnen jenes Volkslied anstimmt, das über die Jahrhunderte Volkslied geblieben ist bis heute, so kommen mit einem Mal Opern- und Volkston wahrhaft zusammen, wenn auch nicht zur Deckung, und das Projekt mit diesem seinem letzten, als Bonus ausgewiesenem Titel bei sich selbst an.

Entscheidend ist nicht, daß die Lieder ins Ohr gehen und lange in den Ohren bleiben, sondern, daß das eine oder andere dem einen oder anderen zum Munde wieder herauskommt – das Volkslied „Die Gedanken sind frei“ bitte jedermann, gleichwie.

Wenn ich ein Vöglein wär – Deutsche Volkslieder Sony Music 2010 www.deutsche-volkslieder.com

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