© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Zur Konjunktur eines politischen Begriffs
Der konservative Ernstfall
von Karlheinz Weissmann

Debatten über die Frage „Was ist konservativ?“ sind langweilig, finden seit mindestens hundert Jahren statt, ohne Ergebnis, Feuilletonangelegenheiten, bei denen man Lesefrüchte präsentiert, sein Lebensstadium bewältigt, in Nostalgie macht oder in Resignation. Noch ist unklar, ob die gegenwärtige Konjunktur des Begriffs „konservativ“, die Erwartung eines „Aufstands der Konservativen“ (Die Welt), eines konservativen „Dammbruchs“ (taz), die Krokodilstränen über das „fehlende konservative Standbein“ (Die Zeit) der Union, Roland Kochs gesammelte Einsichten unter der Überschrift „Konservativ“ (Herder) oder Michael Klonovskys Konjunktiv-Programm für eine konservative Partei (Focus) etwas anderes signalisieren. Etwas anderes wäre eine politische Debatte, bei der sich relativ rasch zeigen würde, daß mit mehr oder weniger geistreichen Ableitungen übers „Konservieren“ nichts getan ist, denn eine andere Politik hätte wenig zu erhalten.

Daß eine andere Politik, die den Namen verdient, Schnittmengen mit den Einsichten klassisch-konservativer Positionen aufweisen müßte, ist unbestritten. Wenn sonst nichts, dann hat die Auseinandersetzung um Sarrazins Buch das unter Beweis gestellt. Wie seine Gegner sehr früh und sehr deutlich hervorgehoben haben, geht es im Kern um die Infragestellung des Glaubenssatzes, daß alle Menschen gleich sind. Abgesehen davon, daß eine solche prinzipielle Gleichheit kein ernsthafter Denker je behauptet hat, ist deren Wirkmacht erheblich. Sie hat nicht nur zu den Absurditäten von Weltinnenpolitik und Multikulturalismus geführt, sondern auch zu einer Umverteilung von groteskem Ausmaß, Atomisierung des sozialen Gefüges, Zerstörung des Leistungsprinzips, Gebärstreik und gender mainstreaming.

Wer dagegen setzt, daß die Menschheit keine Handlungseinheit bildet und die Unterschiede zwischen Kulturen nicht solche beliebiger „Konstruktionen“ sind, die mit ein paar Handgriffen umgebaut werden können; wer darauf beharrt, daß die Schaffung neuer Zwangskörperschaften und die Verfügungen des postmodernen „Gleichheitsstaates“ (Walter Leisner) nur dem Ziel dienen, die Macht der Bürokratie zu vergrößern; wer sagt, daß der ganze pädagogische Firlefanz und das Evaluationsgerede nicht von der fundamentalen Tatsache ablenken können, daß an deutschen Schulen und Hochschulen zuwenig gelehrt und zuwenig gelernt wird; und wer etwas über die schicksalhaft gegebenen, im Biologischen verankerten, eben nicht „erfundenen“ Differenzen zwischen Individuen, Geschlechtern, Ethnien sagt – der übt keine Detail-, sondern Fundamentalkritik.

Sarrazins Versuch, den Hinweis auf die naturhafte Seite des Menschen zu rehabilitieren, kommt deshalb entscheidende Bedeutung zu. Dieser Vorstoß war so gewagt, daß seine Gegner in der Anfangsphase der Auseinandersetzung allzu selbstsicher reagierten, fest davon überzeugt, man könne ihn mit der Assoziationskette Genetik-Sozialdarwinismus-Auschwitz erledigen. Ihre Beunruhigung erklärt sich daraus, daß das Verdikt nicht die gewünschte Wirkung zeigt. Die massive Zustimmung für Sarrazin resultiert vor allem aus der Wahrnehmung eines großen Bevölkerungsteils, der zwar wenig von Mendels Gesetzen und Epigenetik versteht, aber das Empfinden hat, in seiner Alltagswahrnehmung bestätigt worden zu sein.

Der Konservative glaubt nicht an die universelle Gleichheit aller Menschen. Für ihn sind die Differenzen zwischen Individuen, Geschlechtern und Ethnien keine Konstruktionen. Konservativ ist der Wille, das Kontinuum eines bestimmten  Ganzen zu wahren.

So blieb der politisch-medialen Klasse nichts anderes übrig, als auf das „schreckliche Menschenbild“ hinzuweisen, das sich da offenbare. Eine gewisse Logik kann man dem Beharren Sigmar Gabriels in diesem Punkt sowenig bestreiten wie Frank Schirrmacher, der den Angriff von der anderen Flanke führte. Denn es geht um die Infragestellung jenes Konsensus, der in den letzten Jahrzehnten etabliert wurde, die Beschwörung von Egalität und Machbarkeit, die Zurückweisung von Rang und Schicksal, und damit auch um den ewigen Streit zwischen „echten“ und „unechten“ politischen Theorien. Carl Schmitt hat diese Differenz festgemacht am Menschenbild und darauf hingewiesen, daß „echte“ politische Theorien ein eher skeptisches, „unechte“ ein eher optimistisches vertreten. Die Gegner Sarrazins wissen, daß der Vorwurf des „Unechten“ der entscheidende Schlag gegen sie ist, weil ihre Ignoranz oder ihr dauerndes Argumentieren und Handeln wider besseres Wissen gleich unentschuldbar sind, weil das eine wie das andere zu fatalen Konsequenzen geführt hat.

Konsequenzvermeidung ist das Hauptmerkmal dessen, was heute als „Liberalismus“ durchgeht: „gute Absichten und dafür belohnt werden wollen“ (Armin Mohler). Aber die Möglichkeiten des Aussitzens, des faulen Kompromisses, des Nichthandelns haben sich erschöpft, die Wahrnehmung ist eine andere geworden. Es schwindet rapide das Vertrauen, daß auch mittelmäßiges Personal genügt, daß die Beschädigung der Institutionen folgenlos bleiben werde und daß der Ernstfall ein Ammenmärchen ist. Neben dem Rekurs auf das Menschenbild ist die Bezugnahme auf den Ernstfall genuin konservativ. Und die Abschaffung Deutschlands wäre der Ernstfall schlechthin.

Allein die Denkmöglichkeit verschiebt die Perspektiven. Sie führt dazu, daß nicht mehr nur einzelne Mahner geistreiche Essays über die Gefahr des „molekularen Bürgerkriegs“ (Hans Magnus Enzensberger) schreiben, sondern in unerwarteter Deutlichkeit darüber gesprochen wird, wie utopisch die propagierten Zukunftserwartungen waren, welchen Gefährdungen ein Land ausgesetzt ist, das eben noch Luxusprobleme pflegte, Vergangenheit bewältigte und sich sonst zu den saturierten Mittelmächten rechnete.

Die Beunruhigung rührt daher, daß auch der Letzte merkt, wie klein die Reserven sind, die zur Verfügung stehen. Das Über-die-Verhältnisse-Leben war keine Folge punktueller Fehlentscheidungen, sondern ein in den siebziger Jahren etabliertes Strukturprinzip. Es kam dem Bedürfnis des Establishments genauso entgegen wie der breiten Masse und befriedigte das „soziale“ Selbstverständnis der einen und die „sozialen“ Forderungen der anderen gleichermaßen. Tatsächlich sind die vorhandenen finanziellen, politischen und kulturellen Ressourcen fahrlässig verbraucht worden. Von der Staatsverschuldung bis zur „Deregulierung“ der Märkte, vom Zusammenbruch der Geburtenrate bis zur ungesteuerten Einwanderung, von der Analphabetisierung bis zur Wohlstandsverwahrlosung hat man es mit Vorgängen zu tun, die absehbar waren, die die Verantwortlichen aber nicht absehen wollten. In ihrem Wertekanon kam die Sicherung der Dauer – das Hauptziel staatlichen Handelns – nicht vor.

Man könnte auch von „Nachhaltigkeit“ sprechen, aber der Begriff ist verschlissen und sein Gebrauch hat nie zu einem umfassenden Verständnis in der Sache geführt. Vielmehr hat er den Irrtum gefördert, als ob es um Fragen der Mülltrennung oder der Effizienzsteigerung gehe. Man hat sich einer genuin konservativen Vorstellung bedient und sie ihres Vollsinns beraubt.

 Auch diese Fehlentwicklung war absehbar. Die Konservativen haben einen guten Teil ihrer Energie verbraucht, darauf hinzuweisen. Vergeblich. Vergeblich, weil ihre Art der Argumentation, der Rekurs auf die Lehren der Geschichte, äußerst ungern gehört wurde. Nicht, wie oft behauptet, weil dabei antiquarische Interessen ins Spiel kommen, sondern weil der Bezug auf die Parallelen der Vergangenheit zur Einsicht in bittere Wahrheiten zwingt und erst bewußt macht, was es bedeutet, die Kette der Überlieferung abzureißen, die Tradition zu unterbrechen, den konkreten Zusammenhang zu zerstören.

Zur konservativen Welt-Sicht gehören eine skeptische Anthropologie, die Orien-tierung am Ernstfall und an der Geschichte als Lehrmeister des Lebens. Der Erfolg der Konservativen hängt letztlich von ihrem Mut und ihrer                     Entschlußkraft ab.

Das fehlende Geschichtsbewußtsein, der Mangel an Geschichtskenntnis, führt zur Entstehung eines Vakuums, das weder durch reenactment noch durch histotainment gefüllt werden kann. Denn die Geschichte ist keine Mustersammlung und keine „Erfindung“ von Vergangenheit. Die konservative könnte auch als „geschichtliche Weltanschauung“ (Peter Richard Rohden) bezeichnet werden, eben weil es darum geht, durch die Vergewisserung im Gestern Orientierung für das Heute zu gewinnen. Deshalb ist „konservativ“ nicht der Wunsch, einen bestimmten Zustand zu fixieren, sondern der Wille, das Kontinuum eines bestimmten Ganzen zu wahren.

Wer in Zukunft die Frage stellt, wie sich eigentlich die Intensität der gegenwärtigen Diskussion über das Konservative erklärt, wird darauf stoßen, daß es zuerst um Widerstand gegen ein Leben ohne Überlieferung ging, darum den „geistigen Selbstmord“ zu verweigern, den begeht, wer sich aus dem deutschen, europäischen, christlichen „Traditionszusammenhang herausreflektieren“ (Norbert Bolz) will.

Zuerst war das Unbehagen an der Diskussion über die „neue Bürgerlichkeit“ festzustellen, als einzelne Protagonisten wie Peter Sloterdijk, Wolfgang Sofsky, Wolfram Weimer, Jan Fleischhauer oder Norbert Bolz begannen, politische Positionen zu beziehen, die mit einem gewissen Recht als „konservativ“ oder „rechts“ apostrophiert werden konnten. Allerdings war diese Tendenz im wesentlichen auf das Kulturelle gerichtet, geprägt von dem defensiven Versuch der gehobenen Mittelschicht, ihre Lebenswelt zu schützen und für die nächste Generation zu sichern. Entsprechend skeptisch blieb man im Lager der Authentisch-Konservativen.

Vielleicht wäre die Reaktion freundlicher gewesen, hätte man absehen können, daß es nur um eine Vorhut ging, Teil einer größeren Bewegung, deren Umfang und Umriß erst allmählich deutlicher erkennbar wird. Wie dem auch sei, die neue Tendenz hat der alten eine Massenbasis und Angriffsgeist voraus. Die Durchschlagskraft der Thesen Sarrazins erlaubt jedenfalls keine Einbindung in die „Mitte“, äußerstenfalls eine Korrektur des politischen Koordinatensystems. Wahrscheinlicher ist aber das Auftreten von „Sarrazins der Zukunft“ (Berthold Kohler), die genügend Entschlußkraft haben, das zu vollenden, was hier begonnen wurde. Ob sie ihre Sache als eine konservative bezeichnen, ist ohne Bedeutung. Es kommt nicht auf einen Namen an, sondern auf den Inhalt, die Welt-Sicht, die hier unter Verweis auf die skeptische Anthropologie, die Orientierung am Ernstfall und an der Geschichte als „Lehrmeisterin des Lebens“ (Niccolò Machiavelli) charakterisiert wurde.

Konservatismus war in den letzten Jahrzehnten die Sache einer Minderheit, die ihr Selbstbewußtsein auch daraus bezog, eine Minderheit zu sein. Das genügt jetzt nicht mehr, sowenig wie der Wunsch, eine Haltung zu konservieren oder einen bestimmten Denkstil. Der Erfolg der konservativen Welle hängt ganz wesentlich davon ab, ob es gelingt, zwischen der diffusen Massenstimmung, dem, was sich als Mentalitätswandel andeutet, den Dissidenten und den Ideengebern, der Wagenburg und dem Entsatz, eine Verbindung herzustellen. Um das zu erreichen, wird man von Gewohnheiten abgehen und von Empfindlichkeiten absehen müssen. Das bedeutet auch den Verzicht auf das Begleichen mancher alten Rechnung oder das Auskosten von Triumphgefühlen. Denn es geht um Wichtigeres. Die Fähigkeit, zwischen dem Wichtigen und dem weniger Wichtigen zu scheiden, ist eine konservative Tugend ersten Ranges.

 

Dr. Karlheinz Weißmann, ist Historiker, Autor mehrerer Fachbücher und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Staatspolitik. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Thilo Sarrazin unterstellten Sozialdarwinismus (JF 37/10).

Foto: Konservative am Scheideweg: Das Wissen um die Herkunft weist sie in die Zukunft

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen