© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Für Glasperlenspiele war keine Zeit
Die Fragen nach einer Wiedervereinigung nach Artikel 146 oder der Rückkehr der Ostgebiete hatten 1990 keinen praktischen Bezug
Detlef Kühn

Bis heute wird die These vertreten, hätte die Bundesregierung 1990 nur hart und ausdauernd genug verhandelt, wären damals wenigstens Teile der Ostgebiete zurückzugewinnen gewesen. Weitere Kritik richtet sich gegen den Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Besser, so wird behauptet, wäre es gewesen, bei dieser Gelegenheit gemäß Artikel 146 Grundgesetz von dem ganzen deutschen Volk in freier Entscheidung eine neue Verfassung beschließen zu lassen. Dann hätte man vermeintliche oder wirkliche Fehlentwicklungen in der alten Bundesrepublik, etwa im Parteiensystem, gleich mit beseitigen können.

Was Artikel 146 Grundgesetz anbelangt, so ist der Weg zu einer neuen Verfassung durch die Aktualisierung von 1990 nicht verbaut worden. Das „gesamte deutsche Volk“ ist immer noch aufgerufen, „in freier Entscheidung“ eine Verfassung zu beschließen. Ob sie insgesamt „besser“ wird als das Grundgesetz, sei dahingestellt. In manchen Fällen würde es schon genügen, das Grundgesetz konsequent anzuwenden, um Fehlentwicklungen zu korrigieren (siehe Seite 25). So sollen zwar die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken (Artikel 21, Absatz 1 GG). Sie sollen aber nicht, wie es immer stärker geschieht, krakenartig das ganze politische Leben durchdringen und es letztlich erdrosseln. Eine Volksbewegung für eine wirklich neue Verfassung, die nicht von Political Correctness bestimmt wird, wäre jedenfalls auch heute zulässig.

Vereinigung nach Artikel 23 war die schnellste Variante

1990 war aber keine Zeit, die vielen mit der Einheit einhergehenden Probleme auch noch mit einer gesamtdeutschen Verfassungsdiskussion zu belasten. Die wahren Akteure im Osten, die Demonstranten auf den Straßen und die Ausreisewilligen, die bereits auf gepackten Koffern saßen, um die ungeliebte DDR so schnell wie möglich zu verlassen, hatten bestimmt kein Verständnis für derartige Glasperlenspiele. Sie wollten wie die Verwandten im Westen leben und das bald. Verzögerungen durch hochgestochene verfassungspolitische Diskussionen hätten sie kaum verstanden. Ihnen leuchtete der Weg in die Einheit gemäß Artikel 23 Grundgesetz ein. Das war ihre Botschaft bei der Volkskammerwahl vom 18. März. Die meisten politischen Akteure haben das zu Recht sehr ernst genommen. Wer dies nicht tat, wie die SPD-Führung, die Grünen im Westen und viele Bürgerrechtler im Osten, mußte diese Vernachlässigung des Volkswillens bitter büßen.

Schwieriger war die Lage bei den Ostgebieten des Deutschen Reiches. Es ist verständlich, daß die offenkundige Schwäche der kommunistischen Staaten bei Heimatvertriebenen Hoffnungen weckte. Zudem hatte Bundeskanzler Kohl durch das völkerrechtliche Offenhalten der Grenzfrage bewiesen, daß er nicht gewillt war, auf Faustpfänder zu verzichten, bevor die Einheit von Bundesrepublik und DDR unter Dach und Fach war. In Polen wie auch bei vielen Politikern im Westen war diese berechtigte Haltung aber schon auf Unverständnis und Widerstand gestoßen. Sie hätten weitere Vorleistungen der Deutschen lieber gesehen.

Polen war jedenfalls nicht bereit, auch nur einen kleinen Teil seiner Beute von 1945 (zum Beispiel Stettin) wieder herauszugeben, und wurde dabei nicht nur von Frankreich und Großbritannien unterstützt. Etwas anders war die Situation vielleicht beim von der Sowjetunion annektierten nördlichen Ostpreußen. Hier hatte Moskau seine Ostsee-Flotte konzentriert, ansonsten waren Königsberg und Umgebung völlig ruiniert. Die leistungsfähige Landwirtschaft der deutschen Zeit existierte nicht mehr. Unter diesen Umständen – ein selbständiges Litauen an der Ostgrenze des Kaliningrader Gebiets zeichnete sich auch schon ab – lag für manchen Politiker in Moskau der Gedanke nahe, das Gebiet wieder den Deutschen zu überlassen, natürlich ohne Umsiedlung der nun dort lebenden Russen. Sondierungen dieser Art scheint es 1990 gegeben zu haben. Ob Gorbatschow ernsthaft dahinterstand, ist zweifelhaft. Wenn ja, hätten sie sein Ende als sowjetischer Staatschef wohl noch beschleunigt.

Beunruhigend war bis 1994 die Präsenz der Roten Armee

Sicher ist, daß der Gedanke im politischen Bonn keine Begeisterung auslöste. Außen- und innenpolitisch bestanden erhebliche Gefahren. Polen hätte sich von Deutschland umklammert gefühlt. Wirtschaftlich war das Gebiet für Deutschland in seinem damaligen Zustand ohne Wert. Es hätte nur viel Geld gekostet, das man dringend für die Integration der DDR brauchte. Der Zuwachs an russischer Bevölkerung im wiedervereinigten Deutschland, in dem schließlich auch noch die Rote Armee mit mindestens einer halben Million Soldaten stand, hätte sich zu einer innenpolitischen Gefahr auswachsen können. Im übrigen gab es, 45 Jahre nach der Vertreibung der deutschen Ostpreußen, nicht mehr viele rückkehrfähige ehemalige Bewohner dieser Provinz. Wer hätte dort den jahrzehntelangen Wiederaufbau leisten können und wollen?

Alles in allem tat das politische Bonn gut daran, bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen nicht auf Zeit zu spielen. Die Zeit arbeitete nur für die Gegner der Einheit. Sie hätten Gelegenheiten bekommen, Sand ins Getriebe zu werfen. Wichtig war vor allem der möglichst zeitnahe Abzug der immer noch schwer bewaffneten Roten Armee, deren ansonsten desolater Zustand eine permanente Gefahr für die Menschen in der DDR darstellte. Als Helmut Kohl 1993 durch eine nochmalige erhebliche Geldzahlung eine Vorverlegung des endgültigen Abzugs um sechs Monate erreichte, haben die meisten Thüringer, Brandenburger oder Mecklenburger erleichtert aufgeatmet.

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts.

Foto: DDR-Familie am Zentralen Aufnahmelager in Gießen, Ende 1989: Fakten riefen nach schneller Einheit

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