© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Der Staatsstreich findet in Zeitlupe statt
Ein Sammelband beklagt die „Invasion der Freiheitsfresser“, die Deutschland mit Bürokratie und immer neuen Gesetzen beengen
Thorsten Hinz

Haben 1989 nicht Demokratie und Freiheit gesiegt, sondern nur Aldous Huxleys Vision einer „Schönen neuen Welt“ über das düstere Zukunftsbild eines George Orwell triumphiert? Bei Huxley ist der Massenkonsum an die Stelle Gottes getreten, das öffentliche und das private Leben bis ins kleinste Detail durchrationalisiert, Konflikte werden durch eine Massendroge namens Soma eingeschläfert. Im Ergebnis haben die Menschen gelernt, ihre Versklavung aufrichtig zu lieben.

Soweit sind wir noch nicht, doch der Sammelband „Die leise Diktatur“ trägt eine Fülle von Argumenten zusammen, die das von Herausgeber Michael Müller beschworene Bild einer „Invasion der Freiheitsfresser“ rechtfertigen. In 28 Einzelbeiträgen, die in vier Kapitel – „Politik und Medien“, „Erziehung und Familie“, „Integration und Islam“ sowie „Kirche und Kulturkampf“ – gegliedert sind, zeigen die mehrheitlich christlich motivierten Autoren die entsprechenden Tendenzen in Politik und Gesellschaft auf. Berichte über Klimakatastrophen, Kindesmißbrauch, Terrorismus oder Rechtsextremismus halten die Bürger in wohltemperierter Aufregung. Wohltemperiert deshalb, weil parallel dazu suggeriert wird, daß die Lage zwar ernst, doch beherrschbar sei, wenn man nur dem Staat die nötigen Mittel zur Verfügung stelle. Mit jeder Gesetzesänderung aber verkleinert sich der Freiheitsraum. Andererseits würgen Politik und Medien jede Diskussion darüber ab, ob die Fehlentwicklungen überhaupt existieren oder ob sie sie selber begünstigen, etwa die Islamisierung der Gesellschaft.

Dieses Beispiel zeigt, daß die Invasion inzwischen auch von außen kommt, doch ursächlich und primär kommt sie aus uns selbst. Der Journalist Claudius Rosenthal, der unter Jürgen Rüttgers in der Düsseldorfer Staatskanzlei tätig war, verweist auf Fjodor Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“. In der Parabel vom Großinquisitor prophezeit er, daß die Menschen vor ihren Unterdrückern auf die Knie fallen und sie bitten werden: „Knechtet uns lieber, aber macht uns satt!“ Heute, in der Postmoderne, darf jeder einzelne sich als gottberufen fühlen. Heillos überfordert, bleibt er ein Anhängsel der Konsum- und Meinungsindustrie. Diese wacht eifersüchtig über ihre Macht und will alles nivellieren, was einen Bezugspunkt außerhalb des Kreisverkehrs der Ware und des „demokratischen Konsenses“ bietet. Das ist, wie in mehreren Beiträgen gezeigt wird, das tiefere Motiv hinter der Kampagne gegen die katholische Kirche, für die der sexuelle Mißbrauch von Schutzbefohlenen nur den Anlaß liefert.

Der libertäre André F. Lichtschlag bestreitet in seinem Aufsatz „Markt und Moral“ den schlichten Dualismus von herzlosem Manchester-Liberalismus und humanistischem Sozialstaat. Letzterer hat sich zum Monster entwickelt, der Wohlstand und Freiheit zerstört. Um sich zu finanzieren und zu legitimieren, zieht er immer mehr Macht an sich. Das reicht von der Beseitigung des Bankgeheimmnisses über das Rauch- bis zum Meinungsverbot. Lichtschlag konstatiert einen „Überwachungsstaat“ und wirft die Frage auf, wozu dieser seine Daten und Informationen nutzen wird, wenn erst die maroden Sozial-, Gesundheits- und Finanzsysteme wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Schon heute säßen Hunderte Menschen in „politischer Haft“, und zwar „alleine deshalb, weil sie eine falsche Meinung haben“. Die meisten mögen unsympathische Zeitgenossen sein, aber: „Heute trifft es ein paar durchgeknallte Nazis. Und morgen?“

Der bekannte Dissident Wladimir Bukowski, der schon zu Sowjetzeiten kein Blatt vor den Mund nahm, redet auch heute Klartext: über die EU, die sich für ihn in Richtung einer diktatorischen und quasi-kriminellen Vereinigung entwickelt. Die Bürger zahlten Steuern an Nationalstaaten, die weder über ihre Gesetze noch über ihre Territorien herrschten. Die Herrschaft läge bei der Bürokratie, die einen „Staatsstreich in Zeitlupe“ betreibe, die gewachsenen Kulturen zerstöre und den Boden für die zunehmende Islamisierung bereite.

Der Rundfunkjournalist Jürgen Liminski entdeckt hinter der aufdringlichen Fürsorglichkeit des Staates und der geplanten flächendeckenden Krippen- und Ganztagsbetreuung der Kinder die Absicht der „totalen Vergesellschaftung und Instrumentalisierung des Menschen“. Die Familie soll aufgelöst, ihre Mitglieder partikularisiert werden. Andere Beiträge berichten vom Mißbrauch des Instruments amtlicher Kindesentziehung, über die Ausgrenzung der Väter und die Gender-Ideologie. Die Kritik ist oft treffend, manchmal freilich undifferenziert. Es wird nicht bedacht, daß der Anteil der Kinder, die in prekäre Verhältnisse hineingeboren werden, ständig ansteigt. Ausländerkinder aus ungebildeten Familien werden in ihrer häuslichen Umgebung niemals die deutsche Sprache erlernen und eine Erziehung erhalten, die sie zu einer bürgerlichen Existenz befähigt. In diesen Fällen ist eine Kontrolle und sogar ein Zwang durch den Staat plausibel. Richtig ist allerdings auch, daß solche Entwicklungen, wenn keine sozialen und kulturellen Unterscheidungen getroffen werden, die Freiheit aller bedrohen.

Der Publizist Udo Ulfkotte und der Historiker Ekkehart Rotter beschreiben das Vordringen der Scharia in Europa und Deutschland. Großbritannien gibt den Vorreiter. Seit 2008 müssen englische Polizisten Koran-Unterricht nehmen. In Norwegen haben die großen Moslem-Verbände dem europäischen Fatwa-Rat die Frage vorgelegt, ob Homosexuelle – in Norwegen! – auf der Straße erschlagen werden dürfen. Die Antwort des Rates steht noch aus. Für die sonst so kritische Intelligenz Europas sind das keine Themen. Man muß annehmen: aus Angst. Diese kommt aus der eigenen Schwäche, und sie ist auch spiritueller Natur. Nietzsches letzte Menschen, die jetzt Europa besiedeln und sich Gott genug sind, finden in diesem Götzen keine Kraft.

Widersprechen muß man, wenn Herausgeber Michael Müller über das Medienrauschen klagt: „All diese Debatten, kaum Entscheidungen.“ Irrtum! Es fallen unentwegt Entscheidungen, die unseren Alltag bestimmen: die Euro-Einführung, Rettungsschirme, Antidiskriminierungsgesetze, Klimavorschriften. Es geht um etwas anderes: Die vordergründigen Debatten täuschen Information, Diskussion, Mitbestimmung vor, die es in Wahrheit nicht gibt. Hinter dieser Täuschung bleiben die echten Macht- und Entscheidungsstrukturen verdeckt. Selbst das Verharren in der Unentschiedenheit stellt eine Entscheidung dar, die Folgen nach sich zieht: Die Dinge laufen einfach weiter in die eingeschlagene Richtung. Dieses Buch zeigt an, wohin die Reise geht.

Michael Müller (Hrsg.): Die leise Diktatur. Das Schwinden der Freiheit. MM Verlag Aachen 2010, gebunden, 540 Seiten, 22,90 Euro

Foto: Der Denunziant, Zeichnung von A. Paul Weber, 1934: „Heute trifft es ein paar durchgeknallte Nazis. Und morgen?“

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