© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Einzigartige Gestalt
Die Spreu trennt sich vom Weizen: Aktuelle Werke widmen sich Martin Heidegger und seiner Rolle im Nationalsozialismus
Thomas Kneissl

Ende der 1980er Jahre verzog sich der Pulverdampf des „Historikerstreits“ erst langsam, als mit dem „Fall Heidegger“ schon wieder eine Front den Unterhaltungswert des volkspädagogischen Kriegstheaters steigerte. Das zunächst in Frankreich veröffentlichte „Enthüllungsbuch“ eines chilenischen Soziologen namens Victor Farías („Heidegger und der Nationalsozialismus“), erzielte dank eines Vorworts von Jürgen Habermas, den Hymnen der „Leitmedien“ sowie geschickter Inszenierung des S. Fischer Verlags eine beachtliche Resonanz.

Der Meisterdenker und Freiburger Rektor 1933/34 als Parade-Nazi, Rassist, Antisemit und sogar als schuftiger Charakter – besser hätte der Autor die Erwartungen eines bewältigungstrunkenen Publikums nicht bedienen können. Daß Farías Heideggers Werk im Original kaum lesen konnte, daß die historischen Partien Fehldeutungen und Falschangaben gleich schockweise enthielten und Heideggers „Nazismus“ aufgepumpt wurde nach der Methode guilty by association („Nazi“ ist, wer einem „Nazi“ die Hand gibt oder von ihm eine Postkarte erhält, wie Heidegger vom Anatomen Eugen Fischer, der wiederum Mengele kannte!). Das war dem Skandalisierungserfolg nicht etwa abträglich, sondern bei der damals schon beträchtlichen Bildungsferne mancher „kritischer Intellektuellen“ geradezu dessen Bedingung.

Fast zwanzig Jahre später, wieder zunächst für den französischen Buchmarkt konzipiert, glaubte der Pariser Philosophiehistoriker Emmanuel Faye, ein Descartes-Spezialist, es Farías gleichtun zu können. Nicht weniger als die „Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie“, wie er dick auftragend im Titel seines 2009 auch auf deutsch erschienenen Pamphlets trompetet, sei Heidegger anzulasten. Auch dieses Machwerk strotzt vor Fehlern, die den Autor als hinreichend desorientiert über den historischen Kontext, die deutsche Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte, ausweisen. Da er aber anders als Farías sich anheischig macht, Heideggers „Nazismus“ nicht durch Parteimitgliedschaft, Postkartenkorrespondenz oder Rektoratsreden zu „entlarven“, sondern auf sein bis in die Poren „völkisch-rassisch kontaminiertes“ Denken zusteuert, um es derart nachhaltig zu diskreditieren, daß er empfiehlt, dessen Werke weltweit aus den philosophischen Bibliotheken zu entfernen, muß es ihm auf historische „Äußerlichkeiten“ nicht ankommen.

Seine These vom NS-Kern der Heideggerschen Philosophie stützt Faye primär auf zwei Texte, die gar nicht aus der Feder des Denkers stammen, sondern Mitschriften sind aus Seminarübungen der Wintersemester 1933/34 und 1934/35. Die für Fayes Unterstellungen wichtigere Arbeit, „Über Wesen und Begriff von Natur, Geist und Staat“, haben Alfred Denker und Holger Zaborowski fast zeitgleich mit der deutschen Faye-Ausgabe im Heidegger-Jahrbuch publiziert. Seitdem können auch jene, die wie Kurt Flasch – dessen Kenntnisse ohnehin beim Cusaner enden – dem gallischen Polemiker mit jüdischen Wurzeln ahnungslos zujubelten, sich von der Haltlosigkeit seiner Anklagen überzeugen. Quellenkritisch völlig skrupellos, rechnet Faye Heidegger umstandslos zu, was dessen Studenten protokollierten und zugleich redigierten.

Und wenn dies nicht hinlänglich „belastend“ ist, scheut der auf seinen Rationalismus pochende Cartesianer auch vor Umdeutungen und kapitalen Zitatfälschungen nicht zurück, changiert zwischen „gezieltem Betrug“ und „absichtlicher Irreführung“ (Frans van Peperstraten im Heidegger-Jahrbuch Bd. 5). Vollends dem Narrenhäuslertum Fayes zuzurechnen sind dann „Deutungen“ über die vermeintliche Vorwegnahme der Eroberung von „Lebensraum“ oder der „Judenvernichtung“, die er in die Kollegtexte von 1934 flugs hineinliest. Daß Zaborowski hier nicht einmal mehr „Spuren notwendiger Differenzierung und hermeneutischer Vorsicht“ konzedieren mag, verwundert nicht.

Mit der Edition neuer Dokumente über Heideggers Weg im Dritten Reich sowie mit seiner auf die NS-Zeit konzentrierten Biographie des Philosophen kommt Zaborowski jedenfalls das Verdienst zu, Tröpfe wie Faye aus dem Kreis ernstzunehmender Heideg­ger-Forscher gekickt und potentielle Nachahmer hoffentlich gehörig abgeschreckt zu haben. Auch die, leider streckenweise einem Eiertanz gleichende, ängstlich-ahistorische Jahrbuch-Studie „War Heidegger ein Antisemit?“, in der Biographie zweitverwertet, zählt letztlich zu den bleibenden Erträgnissen seiner Bemühungen um den „Wächter des Denkens“ und „Hüter des Seins“. Denn wer gegen den künftig noch die „Antisemitismus“-Keule schwingt, macht sich nur lächerlich.

Dank des flotten Fortschreitens der hundertbändigen Werkausgabe, der Veröffentlichung wichtiger Briefwechsel und der zugänglichen Marbacher Nachlaß-Materialien, auf die sich Zaborowski stützt, erledigt er auch die hartnäckig kolportierte Mär vom überzeugten Nationalsozialisten, der Heidegger bis 1945 und sogar darüber hinaus geblieben sei. Richtig ist vielmehr, daß diese „einzigartige Gestalt“ (Karl Jaspers) unter den Philosophen des 20. Jahrhunderts, bis zum Ende seines Freiburger Rektorats im Frühjahr 1934 in Adolf Hitlers „nationale Erhebung“ zwar viel investierte, daß sich aber seitdem seine Kritik am Führerstaat „langsam radikalisierte“. Noch vor Kriegsausbruch rechnete er den Nationalsozialismus wie „Amerikanismus und Bolschewismus“ zu den Erscheinungsformen des „Zeitalters des Nihilismus“, der „vollendeten Seinsvergessenheit“ der machtversessenen Moderne, zu ihrer „trostlosen Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen“. Diese „metaphysische Identität“des westlichen Demokratismus, des mitteleuropäischen wie sowjetischen Totalitarismus verleitete ihn dann, zum Entsetzen Zaborowskis, nach 1945 zum Vergleich der Judentötung mit dem im Gefolge von Flucht und Vertreibung praktizierten Ethnozid an den Ostdeutschen, oder zur Parallelisierung der „Fabrikation von Leichen in Gaskammern“ mit der „motorisierten Ernährungsindustrie“ – Phänomene, die sich für ihn ganz zwanglos aus der „Selbstverwüstung des neuzeitlichen Menschentums“ erklärten.

Hier hört auch Zaborowskis Verständnis auf. Und an dieser wichtigen Weggabelung läßt er, der immer wieder nervig auf Heideggers „Schuld“ 1933/34 herumreitet, wo nur ein Defizit an politischer Urteilskraft vorliegt, den Leser mit hundert Beschwörungen von „Ambivalenzen“, „nicht unproblematischen“ Positionen und nebulöser „Komplexität“ einfach im Regen stehen. Immerhin läßt er noch die Möglichkeit offen, daß Heideggers ganze große Oper des „Seinsdenkens“ vielleicht einzig und allein in seiner sprachlichen Eigenwilligkeit über trivial-stoffelige Dürerbund-Kulturkritik um 1900, über den katholisch konditionierten Antimodernismus seines Meßkirchner Herkunftsmilieus hinausgekommen sein könnte.

Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröff entlichten Seminare von 1933 und 1935. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2009, gebunden, 557 Seiten, 39,90 Euro

Alfred Denker, Holger Zaborowski (Hrsg.): Heidegger und der Nationalsozialismus, Bd. I: Dokumente, Bd. II: Interpretationen, Karl Alber Verlag, München/Freiburg 2010, zusammen 842 Seiten, jeweils 48 Euro

Holger Zaborowski: Eine Frage von Irre und Schuld? Martin Heidegger und der Nationalsozialismus. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2010, broschiert, 793 Seiten, Abbildungen, 16,95 Euro

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