© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Invasion der digitalen Welten
Eine neue, vom Internet geprägte Generation wächst heran – doch wie hält ihr Gehirn das aus?
Michael Manns

Eine neue Generation wächst heran. Eine, die mit flinken Fingern Texte und Bilder auf ihren Telefonen und PCs produziert und versendet. Eine Generation, die chattet, mailt, twittert und bloggt. Sie hat einen Namen: Es sind die „digital natives“. Der Anglizismus will uns suggerieren: Hier ist der neue Mensch mit hochtrainiertem Gehirn, fit und voller „Power“. So sehen es die Fortschrittsgläubigen. Oder kommen verfettete Bildschirm-Junkies daher, die kraftlos zu Joystick oder Maus tasten? Das ist die These der Skeptiker.

„Im Jahr 2007 schauten Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren am Tag durchschnittlich 73 Minuten fern. Sechs- bis Neunjährige brachten es täglich auf 83 Minuten. Zwischen zehn und dreizehn Jahren waren es 101 Minuten. In dieser Altersgruppe sind auch die meisten sogenannten Vielseher, die täglich mehr als drei Stunden vor dem Fernseher verbringen“, schreibt das Bundesfamilienministerium. „44 Prozent, fast die Hälfte aller Kinder in Deutschland, haben einen eigenen Fernseher im Zimmer. Zu den Vielsehern gehören mehr Jungen als Mädchen und mehr Kinder mit einem eigenen Gerät.“

Das Fernsehen ist in den vergangenen 20 Jahren immer schneller und bunter geworden – unschwer festzustellen, wenn man sich ältere Filme ansieht. Der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther hat festgestellt, daß die Jugendlichen die alten Filme nicht ertragen können. „Ihr Gehirn hat sich an die schnellen Sequenzen angepaßt.“ Und noch schlimmer dies: „Mehr als drei Seiten in einem Buch zu lesen, überfordert sie – weil sie verlernt haben, selbst Bilder im Kopf entstehen zu lassen.“

Mehr als drei Buchseiten zu lesen, überfordert viele

Der Hirnforscher erklärt, warum gerade Kinderhirne so formbar sind: „Das Gehirn wird ja so, wie man es benutzt. Besonders stark prägt sich ein, was man mit Begeisterung tut. Dann werden neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet, mit deren Hilfe all jene Nervenzellverschaltungen dieses emotionalen Zustands gefestigt und verstärkt werden, die man in diesem Zustand besonders intensiv benutzt.“ Die digitale Generation lernt so, Bilder schneller zu erfassen und darauf zu reagieren, wenn sie die neuen Technologien intensiv nutzt. Vor allem durch PC-Nutzung und SMS-Schreiben wird eine bestimmte Gehirnregion stärker herausgebildet – die Daumen-Steuerungsfunktion. So verbesserte sich die manuelle Geschicklichkeit von Chirurgen mit Computerspiel-Erfahrung deutlich, und sie konnten diffizile Operationen im Schlüssellochverfahren besser ausführen, berichtet Rüdiger Vaas in seinem Buch „Schöne neue Neuro-Welt“ (JF 15/09).

Doch dagegen steht eine deutliche Negativ-Liste. Das schnelle Surfen und Navigieren in den Web-Seiten drillt das Gehirn zwar auf bestimmte Weise. Doch wir lernen nur leichter, über die Dinge hinwegzugehen; das Kurzzeitgedächtnis wird stärker, das Langzeitgedächnis schwächer. Darauf deuten Studien hin. Internet-Kritiker Nicholas Carrs, dessen Buch („Wer bin ich, wenn ich online bin“) in diesen Tagen in Deutschland erscheint, warnt: „Wenn wir mit dem Web das persönliche Gedächtnis zu ersetzen beginnen, wenn wir dadurch nicht mehr zulassen, daß sich das Wissen konsolidiert, dann riskieren wir, unser Gehirn seines Reichtums zu berauben.“

Etwa ein Drittel unseres Gehirns ist für die Planung, Koordination und Ausführung von Bewegungen zuständig. Und genau dieses Drittel wird beim Lernen mit der Hand benutzt, daher kommt „begreifen“. „Beim Lernen mit einem Mausklick bleibt dieses Drittel passiv“, warnt der Ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, Manfred Spitzer. Früher waren die Gegenstände verstehbar und handhabbar: Fahrrad, Dampfmaschine, sogar ein Auto. Ein Kind konnte einen Wecker auseinandernehmen, die Rädchen in seinem Innern untersuchen und so das mechanische Herz entschlüsseln. Mit Hammer und Schraubenzieher sollte man nicht seine Hard- oder Software bearbeiten.

Internet ist Teil unseres Selbstmodells geworden

Spitzer sagt, es gebe keine einzige Untersuchung, die zeige, daß der Computer für die intellektuelle und soziale Entwicklung der Kinder Vorteile habe, viele Studien hätten aber Nachteile gefunden. Computer in Kindergärten oder Grundschulen, den Professsor aus Ulm graut es davor. Sein Urteil: „unverantwortlich“. Sein Rat: Kinder auf keinen Fall vor der Pubertät an den Computer lassen. Andere Bedenken beziehen sich auf die Körpererfahrung. Sitzt ein Kind vor dem Bildschirm, spürt es den Körper nicht mehr. „Es wird nicht krabbeln, nicht umherspringen, nicht balancieren, schon gar nicht auf Bäume klettern. Das ist gestohlene Körperlernzeit“, warnt Professor Hüther.

Hinzu kommt ein gestörtes Hunger- und Durstgefühl, da die Körpersignale ignoriert werden. „Auch die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, deren Emotionen zu erkennen und mit der angemessenen Gestik und Mimik darauf zu reagieren, kann sich verringern“. Eine Allensbach-Studie berichtete Anfang des Jahres, daß Jugendliche es verlernen, anderen Menschen in die Augen zu gucken, weil ihr Gegenüber meist ein Display ist.

Das 21. Jahrhundert wird nicht nur geprägt vom globalen Produktionsfaktor Internet, sondern auch von bahnbrechenden Erkenntnissen in der Gehirnforschung und ihren neurotechnischen Anwendungen: Intelligenzverstärker, Neurokosmetika, Gefühlsdesign, Gedächtnisverbesserung oder Gedächtnislöschung. Dazu kommen noch genetische Manipulationsmöglichkeiten und ungeahnte Therapien.

Der alte Mensch des Maschinenzeitalters hat ausgedient. Kommt ein neuer? Der international renommierte deutsche Kognitionsforscher Thomas Metzinger sagt, das Internet sei Teil unseres Selbstmodells geworden. „Wir benutzen es als externen Gedächtnisspeicher, als kognitive Prothese und für die Regulierung unseres gefühlmäßigen Zustands.“

Wissenschaftlich-technische Entwicklungen sind irreversibel. Eine Gesellschaft ohne Internet ist kaum vorstellbar. Wir müssen mit den elektronischen Medien leben. Sokrates haßte das geschriebene Wort, er wollte den lebendigen Dialog, die mündliche Tradition des Erzählens retten – vergeblich. Friedrich Nietzsche stellte fest, wie sein Stil sich änderte, als er zum ersten Mal eine mechanische Schreibmaschine bediente. Der Philosoph schrieb plötzlich dichter und kürzer. Abzuwarten bleibt, was sich evolutionsbiologisch bei unserer Spezies ändert, ob der Homo sapiens im 22. Jahrhundert verdummt und verdämmert oder sich veredelt. Nietzsche schrieb in seinem Hauptwerk „Also sprach Zarathustra“: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.“

Manfred Spitzer: Medizin für die Bildung – Ein Weg aus der Krise. Spektrum Verlag, Heidelberg 2010, 276 Seiten, 19,95 Euro.

 Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften: www.cbs.mpg.de

Charles Bell (1774–1842), The Anatomy of the Brain (dt. Die Anatomie des Gehirns), 1802: Das Navigieren im Internet stärkt das Kurzzeitgedächtnis, das Langzeitgedächtnis wird schwächer

 

Fernsehschäden In den USA hat ein Kind beim Eintritt in die Schule schon Zehntausende Morde und Mordversuche über sich ergehen lassen. Die New Yorker Columbia University hat 700 Familien 17 Jahre lang bei ihrem TV-Konsum und den Folgen beobachtet. Das Ergebnis war wenig erfreulich: Je höher der Fernsehkonsum, desto häufiger Aufmerksamkeits- und Schlafstörungen bei den Kindern, gesteigerte Aggressionen, Übergewicht und Bewegungsmangel.  

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