© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Neue deutsche Halsmode
Schals von „Lotte in Moskau“
Martin Lichtmesz

Man muß mindestens zweimal hinsehen, bis sich die kunstvoll arrangierten Ornamente auf den eisblauen, grauen, goldenen oder schwarzen Seidenschals aus dem Sortiment des alternativen Modelabels „Lotte in Moskau“ zu erkennen geben. Da taucht etwa die Gestalt eines „schnell und laut an Höhe verlierenden Flugzeuges aus dem Hause Junkers“ auf oder das facettenaugenartig vervielfältigte Konterfei eines gewissen „oberschwäbischen Bombenlegers“, alias Claus Schenk Graf von Stauffenberg, stilisiert in der Manier der Pop-art.

Doch nicht nur Stukas im Sturzflug, abgekupfert aus der DDR-Comiczeitschrift Atze, sind in die Kollektion aufgenommen worden. Ein „formschöner Anderthalbdecker mit festem Fahrwerk“ findet sich ebenso wie mehrere „Schwalben“ und ein Modell mit der Bezeichnung „fliegt schnell, laut und brummend“ – wobei die Ähnlichkeit mit einem Titel der legendären Westberliner Experimental-Combo Die Tödliche Doris wohl nicht zufällig ist. „Pilote de Guerre“ zeigt die Silhouette einer Focke-Wulf 190, die 1944 zum Verhängnis des französischen Fliegerdichters Antoine de Saint-Exupéry wurde.

Spätestens da, wo Auszüge aus dessen Novelle „Flug nach Arras“ auf dem Schal selbst abgedruckt sind, ist die Grenze zum kategoriensprengenden Kunstobjekt verwischt. Oder auch zur Literatur, denn das Ein-Mann-Projekt des 35jährigen, in Potsdam ansässigen Landschaftsarchitekten und Grafikers Thomas Michael würdigt neben dem abenteuerlichen Franzosen noch andere große Autoren. „Radardenker“ zitiert aus Gottfried Benns Vortrag „Können Schriftsteller die Welt verändern?“ „Subtile Jagden“ listet die Namen von nach Ernst Jünger benannten Käfern auf, wobei der „Jüngersche Taumelkäfer“ über einen eigenen farbigen Schal krabbelt.

Der äußerste Grad an Abstraktion ist wohl in dem mit Versen von Stefan George betitelten Modell „Nun schlug meine stunde / nun füllt sich das garn / nun strömen die fische zum hamen“ erreicht. In winzig kleiner, kaum lesbarer Schrift ist darauf minutiös der Ablauf des Putschversuchs vom 20. Juli 1944 abgedruckt, für dessen Akteure Michael offenbar eine besondere Vorliebe hegt.

Pate standen bei der Konzeption der Schals die italienischen Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti mit ihrer einst avantgardistischen, heute schon wieder nostalgisch anmutenden Verherrlichung der Maschine als ästhetisches Artefakt, besonders wenn sie im Dienste der Schnelligkeit, der Fortbewegung, aber auch des Krieges steht.

Für den eher rustikalen Geschmack hingegen gibt es das Modell „Hasforst“, das einen jugendbewegten, fahnentragenden Trupp unter den orangenen Strahlen der sinkenden Sonne der FDJ zeigt. Der quasi-fetischistische und genüßlich esoterische Zug dieser Mischung aus persönlichen Ikonen, literarischen Vorlieben, entomologischen Interessen und DDR-Reminiszenzen ist nicht zu übersehen, ebensowenig das Augenzwinkern und die feine Ironie.

Thomas Michael eint mit seinen Kreationen eine Bescheidenheit, die sich dem lauten Verkünden von „Messages“ in plakativer T-Shirt-Manier verweigert. Reich macht ihn derlei Liebhaberkunst nicht: der Verkauf spielt gerade die Produktionskosten ein. Und das, obwohl zwei Auflagen von „Lotte in Moskau“ so gut wie ausverkauft sind und die 35 Euro teuren Schals von Besitzern wie Kultobjekte gehütet werden.

 www.lottemoskau.de

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