© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Krise und Kritik
Mehr Selbstbestimmung wagen
Klaus Hornung

Der wichtigste Ertrag der „Staatsaffäre“ um Thilo Sarrazin ist, daß er die Öffentlichkeit unsanft auf fundamentale Realitäten der zweiten deutschen Republik hingestoßen hat. Während das Establishment in Politik, Parteien, Wirtschaft und Medien penetrant das Bild einer heilen deutschen Welt malt, der neue Bundespräsident in seinen Reden von einer „bunten Republik“ der Vielfalt schwärmt und man das meiste im Land in bester Ordnung findet bis hin zur angeblich überwundenen Wirtschafts- und Finanzkrise, machen Leute wie Sarrazin oder auch der frühere Bundesfinanzminister Peer Steinbrück darauf aufmerksam, wie sehr in den Fundamenten unseres Landes tiefe Risse klaffen.

Wer kann übersehen, daß dazu die tiefe Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten gehört? Gerade die Reaktion der Staatsspitzen auf den Dissidenten aus der Bundesbank ließ das wieder deutlich werden. Frau Merkel reagierte wie eine beleidigte Ober-Zensorin („wenig hilfreich“, „es ist alles gesagt“) und bestätigte damit nur ihre Kritiker. Die Welt der Politik, des Parteienstaates, vieler Konzernmanager und Chefredakteure einerseits und „die Leute“ (Merkel) leben auf verschiedenen Umlaufbahnen. Die Entfremdung zwischen beiden hat inzwischen einen die Stabilität unseres Gemeinwesens bedrohenden Grad erreicht. Der Kommentar von Berthold Kohler in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, es liege „ein Hauch von Rebellion“ in der Luft, und die Mahnung von Focus-Herausgeber Helmut Markwort, der die Amtsinhaber an ihren Eid erinnerte, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, liegen näher an der Wirklichkeit als das meiste, was wir von Politikern im Zusammenhang mit der Bankenrettung, der Einwanderungs- oder Europapolitik gehört haben.

Sarrazin steht in einer beschämend langen Reihe von Abweichlern im „freiesten Staat der deutschen Geschichte“. Die Mehrheit der Bürger erwartet diesmal nicht die Selbstkritik des Dissidenten, sondern die der politischen Klasse. Die Wähler wollen einen Politikwechsel: weg von überzogener Fremdbestimmung durch internationale Machtkomplexe, hin zu mehr Rücksicht auf die Interessen des eigenen Landes. Ein Paradigmenwechsel steht an, von zuviel Bevormundung hin zu mehr Selbstbestimmung „der Leute“.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaft an der Universität Hohenheim

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