© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Schöpfung ohne Schöpfer
Der englische Astrophysiker Stephen Hawking präsentiert eine neue Erklärung des Universums
Michael Manns

Versucht man es sich schönzureden, könnte man sagen: Physiker und Kosmologen kommen um Gott nicht herum, wenn sie das Universum und seine Entstehung erklären wollen. Auch wenn sie ihn abschaffen wollen. Denn auch dann müssen sie sich mit ihm beschäftigen, so wie es der britische Physiker Stephen Hawking in seinem neuen Buch („Der große Entwurf“) versucht. Sieht man es dagegen realistisch, muß man konstatieren, daß wieder eine neue Atheismus-Welle ins Land schwappt – nach Dawkins’ „Gotteswahn“ (im Jahr 2007) und der Atheismus-Bus-Kampagne (im vergangenen Jahr).

Spontane Erzeugung ist der Grund, warum etwas ist

„Der große Entwurf“ ist kein unbescheidener Titel und Hawking hat sich auch viel vorgenommen. Zuvor aber stellt der wegen Nervenlähmung an den Rollstuhl gefesselte Wissenschaftler erst mal zwei Todesurkunden aus: Die Philosophie sei tot und Gott eigentlich auch. Die großen Fragen wie „Warum gibt es etwas und nicht einfach nichts?“ oder „Warum existieren wir“ – dieses klassische Geschäft der Metaphysik, das will der weltbekannte Kosmologe jetzt selbst in die Hand nehmen.

Doch zuvor unternimmt er mit dem Leser eine anstrengende Tour d’horizon durch die Wissenschaftsgeschichte. Auf nur 192 Seiten (dazu noch großzügig layoutet) breitet er ein äußerstes Konzentrat aus: Von den Vorsokratikern und Aristoteles über Augustinus, Newton, Einstein. Es folgen Relativitätstheorie, Quantentheorie, die Pfadintegrale von Richard Feynman (Physiker des „Manhattan Project“), der Doppelspaltversuch, die Stringtheorie, Unschärferelation, Singularitäten, Urknall und Multiversen. Es ist harte Kost. Es setzt mehr voraus als Physik-Abitur-Niveau. Da helfen auch die sporadischen Witzchen und Comics nicht weiter. Vielleicht ist hier auch eine Grenze erreicht, wo man dem Leser in einer allgemeinverständlichen Sprache komplizierte Konzepte vermitteln kann.

Hawkings Anti-Gottes-Beweis fällt knapp und lapidar aus: „Spontane Erzeugung ist der Grund, warum etwas ist und nicht einfach nichts, warum es das Universum gibt, warum es uns gibt. Es ist nicht nötig, Gott als den ersten Beweger zu bemühen, der das Licht entzündet und das Universum in Gang gesetzt hat.“ Aha, so einfach geht das also, denkt der Leser und ihm fällt Kant ein, der sich mit seiner Auseinandersetzung mit Gottesbeweisen und ihrer Widerlegung augenfällig mehr Mühe gegeben hat.

Auch der „frühe Hawking“ war da deutlich vorsichtiger. In „Eine kurze Geschichte der Zeit“ heißt es noch vorsichtig abwägend: „Wer bläst den Gleichungen den Odem ein und erschafft ihnen ein Universum, das sie beschreiben können.“ Und in „Einsteins Traum“: „Warum macht sich das Universum die Mühe zu existieren? Ich kenne die Antwort nicht.“

Was ist der Kern seines Beweisganges? Im Bereich der Elementarteilchen (Quanten) gibt es bizarres, ja „gespenstisches“ (Einstein) Verhalten. Teilchen scheinen sich dem Kausalgesetz zu entziehen. Ferner können Teilchen, die vorher nur virtuell existierten, plötzlich in Existenz treten, wie eine Urzeugung aus dem Nichts. Dieses Konzept der Quantenfluktuation überträgt Hawking auf das ganze Universum. Ein waberndes Nichts hat plötzlich und spontan die Schöpfung ins Leben gerufen. Die Idee eines Schöpfers wird so, nach Hawking, überflüssig.

Hawkings Theorie über die Welt ist nicht unumstritten

Es gibt mehr als einen Einwand, den man ihm entgegnen muß. Da sind die Naturwissenschaftler selbst. Sie sind ja keineswegs alle überzeugte Atheisten. Der Physiker Frank Tipler von der Tulane University of Louisiana (JF 36/09) leitet Gott zum Beispiel direkt aus den Konzepten von Relativitätstheorie und Quantentheorie ab. Also kann es keinen wissenschaftlichen Beweisgang geben, der die Abschaffung Gottes zwingend fordert. Denn diese individuelle Entscheidung hat vielleicht Gründe, die jenseits einer naturwissenschaftlichen Dimension liegen. Die Schönheit einer Sinfonie läßt sich auch nicht nur mit dem Luftdruck und der Molekülbewegung erklären.

 Ferner stützt sich Hawking auf die Stringtheorien (genauer: die M-Theorie, sie ist eine Weiterentwicklung). Seit 40 Jahren wird an diesem mathematischen Konstrukt herumgeschnitzt. Es gibt bis heute keinen einzigen empirischen Beweis für die Stringtheorien. Immer mehr Naturwissenschaftler halten sie für bessere Science fiction. Für den renommierten US-Physiker Lee Smolin (JF 51/09) ist sie „wissenschaftlich zweifelhaft“. Andere vergleichen die mathematischen Konstrukte der Stringtheoretiker mit scholastischen Spitzfindigkeiten.

Hawkings Theorie über die Entstehung der Welt ist nicht unumstritten. Es gibt auch andere Modelle. So vertritt Alex Vilenkin von der Tufts University in Massachusetts (in Deutschland durch sein Buch „Kosmische Doppelgänger“ bekannt) eine andere Urknall-Theorie. Am Ende seines Buches stellt der Physikprofessor die Frage, ob die Naturgesetze nicht schon „vor dem Universum“ dagewesen sein müßten. Vilenkin: „Bedeutet dies, „daß die Gesetze mehr sind als reine Beschreibungen der Wirklichkeit, daß sie eine unabhängige, eigene Existenz besitzen können? Auf welchen Tafeln können sie geschrieben sein, ohne Raum, Zeit und Materie? Die Gesetze finden ihren Ausdruck in Form mathematischer Gleichungen. Wenn die Mathematik über den Geist vermittelt wird, bedeutet dies, daß vor dem Universum der Geist steht.“

Gott scheint sich doch nicht so einfach wegdefinieren zu lassen.

Stephen Hawking und Leonard Mlodinow: Der große Entwurf – Eine neue Erklärung des Universums. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, gebunden, 192 Seiten, 24,95 Euro.

 Englischsprachige Internetseite von Stephen Hawking: www.hawking.org

Stephen W. Hawking, wurde 1942 im englischen Oxford geboren. 1962 schloß er sein Physik-Bachelorstudium an der Universität Oxford ab. 1966 promovierte Hawking über theoretische Astronomie und Kosmologie an der Universität Cambridge. Von 1979 bis 2009 war er dort Inhaber des Lucasischen Lehrstuhls für Mathematik, den einst Isaac Newton innehatte. Seit 1968 ist er wegen der Nervenkrankheit ALS auf einen Rollstuhl angewiesen. 1985 verlor er die Fähigkeit zu sprechen.

Foto: Urknall-Bild und Gotteshand von Michelangelos „Die Erschaffung des Adam“: Die Quantenfluktuation überträgt Hawking auf das Universum

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