© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Der Flaneur
Berlin Alexanderplatz
Christian Dorn

Die Weltzeituhr am Alexanderplatz hat vieles schon gesehen, vor allem das Kommunismus-Gen. Letzteres hat wieder seine Lemuren gesandt, als Gespenster geistern sie erneut über den vielleicht häßlichsten Platz Europas. Es ist eine windige, megalomane Aufmarschfläche, auf der sich auch sonst die aus der Geschichte gefallenen Figuren herumtreiben. Im Ergebnis des 1964 ausgerichteten Wettbewerbs wurden sämtliche Straßen, denen der Alexanderplatz seine Entstehung, seine Karriere und seine gesamtstädtische Rolle verdankte, gekappt und an ihm vorbeigeführt. Die sozialistische Stadtplanung verwandelte ihn auf diesem Weg in eine anti-urbane Unwirtlichkeit, einen Platz, der sich plötzlich außerhalb der Stadt befand.

„K-Gruppen singen und Pappnasen werben – Diktatur und Karneval liegen nah beieinander“

So ist es bis heute ein seltsamer Ort, geprägt von transzendentaler Obdachlosigkeit. Selbst Scientology baute die Tapetentische, an denen vorbeieilende Passanten zum persönlichen „Streßtest“ gebeten wurden, wieder ab. An ihrer Stelle tummelt sich jetzt ein halbes Dutzend Aktivisten, das ein großes rotes, vorübergehend totes Banner hält, das für die „Kommunistische Partei Deutschlands“ wirbt. Derweil singt vor der Weltzeituhr eine Agitprop-Gruppe in schlichten Reimen gegen den Kapitalismus an, beschwört gebetsmühlenartig die Systemüberwindung und ruft zur Montagsdemo auf. Am östlichen Ende stehen junge Leute in weißen Arztkitteln und mit roten Pappnasen, sie werben für Clowns in Kinderkrankenhäusern. Einer von ihnen, er stellt sich vor als „Wilhelm“, eilt mit geöffnetem Kittel auf die Passanten zu. Auf seiner Brust prangt ein Antifa-T-Shirt, und der verbale Angriff läßt nicht lange auf sich warten: Der – von ihm und seinen Gesinnungsgenossen definierte – „Faschismus“ sei keine tolerierbare Meinung, sondern ein eindeutiges Verbrechen, läßt er wissen. Dafür dürfe es unter keinen Umständen einen Platz geben. Diktatur und Karneval scheinen gespenstisch nah beieinander.

 

Erstaunlich, in welch einfältiger Sprache deutsche Politiker die kulturelle Vielfalt beschwören.

Michael Klonovsky, Publizist

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