© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Sssst-rrrt-Bumms!...Udja-udja-Bumms!
Der Erste Weltkrieg im Originalton: Helmuth Kiesel hat Ernst Jüngers Kriegstagebuch 1914 bis 1918 ediert
Alexander Pschera

Manchen Autoren begegnen wir im strahlenden Sonnenschein, im Land, wo die Zitronen blühn. Mit anderen steigen wir hoch hinauf auf den Berg, dorthin wo die Luft rein ist, wo sie verklärt und verzaubert. Das sind Autoren des stabilen metereologischen Hochdrucks. Zu diesen gehört einer mit Sicherheit nicht: Ernst Jünger. Zwischen uns und ihm steht nicht nur eine atlantische Regenfront mit Tiefausläufern, sondern zwischen uns und ihm stehen veritable Stahlgewitter.

Es hilft nichts: Wer zu Jünger will, muß durch dieses Unwetter hindurch. Mit oder ohne Schirm. Und so mancher verliert dann den Glauben, wird naß und schreibt Despektierliches über jenen Stahlblitze schleudernden, menschen- und weltverachtenden, zynischen Wettergott mit dem kalten Blick. Diese Abwertung kann aber allenfalls den Text treffen, aber nicht seinen Autor. Denn die „Stahlgewitter“ sind – wie jeder halbwegs Informierte weiß – trotz ihres Authentizität verbürgen wollenden Untertitels (Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers) alles andere als ein Diarium. Sie sind eine sorgfältig komponierte und vielfach umgearbeitete Erzählung in Ich-Form. Sie sind literarische Sublimation, episches Konstrukt, am Ende eben doch fiktionales Gebilde. An den „Stahlgewittern“ klebt eben nicht die Kreide der Champagne, auch nicht das Blut von Verdun oder der Somme-Schlacht, sondern nur die Tinte der Berliner Nachkriegszeit. Das Erleben, gesehen durch die Brille des Überlebens: So könnte man die Grundkonstellation von Jüngers Erstling beschreiben.

Die Konjekturen, die der Autor dabei an der erlebten Wirklichkeit vornimmt, können nun überprüft werden an der von Helmuth Kiesel einwandfrei besorgten Edition der originalen Kriegstagebücher Ernst Jüngers, die in 14 nicht nur tinten-, sondern blut- und schweißbefleckten Notizbüchern heute im Marbacher Schrein liegen. Jeder wußte, daß es sie gab, jene mythischen Kladden (viele haben dieses Wort erst hier kennengelernt), die der Leutnant Jünger unter den in die Hosenträger eingehängten Handgranaten in der Rocktasche trug. Jetzt kann man sie studieren. Doch wer diese Kriegstagebücher nur philologisch liest und ständig in den zwölf Fassungen der Stahlgewitter hin- und her blättert, um zu sehen, was sich wann, wo und wie verändert hat, dem ist nicht zu helfen.

Denn was bei dieser Lektüre zunächst auffällt, ja einen regelrecht anspringt, ist die Monotonie der Echtzeit. Granaten schlagen ein, Verwundete werden abtransportiert, Schanzen werden ausgehoben. Granaten schlagen ein, Verwundete werden abtransportiert, Schanzen werden ausgehoben. Und so weiter. Je länger man liest, um so bedrückender wird diese Monotonie, um so unerträglicher und auswegloser wird dieses mahlende Rad der Front, das erbarmungslos über alles hinwegrollt.

Diese Musik der Monotonie ist durchzogen von allen möglichen heranzwitschernden, heranwummernden, heranpfeifenden Projektilen. Jünger zeichnet sie auf, weil er weiß, wie überlebenswichtig es ist, die gefährlichen von den weniger gefährlichen zu unterscheiden. Dieser Soundtrack der Stahlgewitter drückt den Leser regelrecht in sein Sofa hinein, man ist schon versucht, den Kopf einzuziehen, wenn die Tür im Nachbarzimmer in den Angeln quietscht. Das hat etwas von akustischen 3D-Effekten, heißt aber auch: Schon ganz ohne bewußte literarische Gestaltung und Feilung, wie sie den veröffentlichten Text der Stahlgewitter auszeichnet und zu der der Leutnant im Graben weder Zeit noch Lust hatte, ist Jünger schon ein famoser Erfasser von Realität. Ja, sein Blick ist hier schärfer denn je. Er sucht, magnetisch angezogen, die Zonen des Verfalls, die in den originalen Tagebüchern einen weit größeren Raum einnehmen als in der veröffentlichten Version.

Die Kriegstagebücher sind ein Text der schwarzen Romantik, in denen ein Bildschock den anderen ablöst: die schleimige Mumie des Engländers im Drahtverhau; die Bottiche der Schweinezucht, in denen Pferdekadaver in kochendem Wasser ausgelassen und zu Futtermaterial verarbeitet werden; die dreißig Särge in der Kirche, aus denen das Blut fließt.

Dies alles deutet voraus auf das „Abenteuerliche Herz“, in Teilen auch auf die metaphorisch zerklüftete Landschaft der „Marmorklippen“ mit ihren definierten Zonen des Bösen. Unter diesem Aspekt ist die Lektüre der Kriegstagebücher besonders lohnend: Die Optik des Kriegers ist nicht gleichgültig, sie differenziert bei aller auch hier zur Schau gestellten Gleichgültigkeit („sie ist eine meiner Haupteigenschaften“) nach Gut (Überleben) und Böse (Zerstörung und Tod). Natürlich ist das ein unmittelbarer Vitalismus, der im Überlebenwollen gründet, aber in der Art, wie Jünger die Besichtigung der Schlachthöfe im Hinterland der Front beschreibt, kündigt sich schon eine im Kern moralische Ahnung von einer Abgründigkeit und Doppelbödigkeit von Realität an, wie sie den Jünger der surrealistischen Phase später kennzeichnen soll.

Den nationalistischen Impetus hingegen, den die von den Stahlgewittern Begossenen so gerne brandmarken, sucht man in den Kriegstagebüchern fast vergebens. Spürt man ihm nach, so findet man ihn in schwachen, fast mechanisch klingenden Floskeln.

Eher stößt man auf das Gegenteil: Die Frage nach dem Sinn des Tötens („Es ist ein Jammer, solche Kerle totschießen zu müssen“) und eine grüblerische Nachdenklichkeit, die man vom offiziellen Jünger (der sich natürlich selbst erzeugt hat), nicht kennt. Phrasen wie „Dabei sagte ich mir selber“ oder „dachte ich, ich weiß nicht, wie ich darauf kam“, die den inneren Monolog mit sich selbst abbilden, kennt man von Jünger nun überhaupt nicht. Sie passen am allerwenigsten ist das Bild des Autors. Da ist das Ich immer voll und ganz und einheitlich ein „Ich“ – ohne zersetzenden, relativierenden inneren Monolog, der schließlich ein Zeichen von Schwäche ist, weil er erstens die Zufälligkeit der getroffenen Entscheidung zeigt und zweitens die Möglichkeit von Optionen offenläßt. Im Innern des unbedingten Wollens spricht Jünger also ständig mit sich selbst: Das ist nicht die geringste Erkenntnis, die man aus der Lektüre der Kriegstagebücher mitnimmt.

Helmuth Kiesel (Hrsg.): Ernst Jünger. Kriegstagebuch 1914–1918. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010, gebunden, 655 Seiten, 32,95 Euro

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