© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Dogma und Gedächtniskrone
Fragestellungen über das Ziel der deutschen Vergangenheitsbewältigung
Thorsten Hinz

Trauerarbeit macht frei? Von wegen! Mehr als vierzig Jahre Vergangenheitsbewältigung haben Deutschland weder Seelenfrieden noch das Ende moralischer und materieller Reparationsforderungen beschert, nur einen „rasenden Stillstand, der nicht vergehen kann“. Das jedenfalls glauben Ulrike Jureit, Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung (Reemtsma-Institut), und der in Kassel lehrende Soziologe Christian Schneider. Gemeinsam haben sie über die Entstehung und Mechanik des erinnerungspolitischen Hamsterrades ein scharfsinniges, faktenreiches und wohlformuliertes Buch verfaßt. Das sei – bei allen Einwänden, von denen noch die Rede sein wird – vorausgeschickt. Jureit wählte für ihren Aufsatz einen gedächtnistheoretischen Ansatz, Schmidt verbindet die zeitgeschichtliche mit einer psychoanalytischen Perspektive.

Ihr Ausgangspunkt ist die „Spirale der Selbstzerstörung“, die der Soziologe Norbert Elias im Angesicht des RAF-Terrorismus im „Deutschen Herbst“ 1977 konstatierte. Elias sah in den Terroristen die exaltierte Avantgarde einer Jugend, die sich dem politischen System der Bundesrepublik entfremdet hatte und ihr Heil in marxistischen Gesellschaftsmodellen suchte. Die Ursache der Entfremdung erblickte er in einer Identitätskrise, die in der fehlenden Auseinandersetzung der Vätergeneration mit den Verbrechen des Nationalsozialismus wurzelte.

Aus dem gefühlten Schuldzusammenhang der Nation bot sich den 68er-Studenten, um die es vor allem geht, ein doppelter Ausweg an: zum einen die Identifikation mit den Opfern des Regimes, insbesondere den Juden, zum anderen die unablässige Durcharbeitung und Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. Der Klassiker von Margarete und Alexander Mitscherlich „Die Unfähigkeit zu trauern“ lieferte die Stichworte dafür. Bundespräsident Richard von Weizsäcker verlieh der Vergangenheitspolitik in seiner Rede am 8. Mai 1985 die staatspolitische Weihe und rückte sie mit einem Halbsatz: „das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ in eine religiöse Dimension. Ins Säkulare gewendet, ergibt sich aus dem religiösen Erlösungsversprechen die Aussicht auf Versöhnung.

Über 25 Jahre danach sind Erlösung und Versöhnung ausgeblieben oder noch immer in eine unabsehbare Zukunft verschoben. Das unter manischem Erinnerungszwang stehende kulturelle Gedächtnis der Deutschen stellt einen Sonderfall dar. Denn das Auswahlkriterium, das über die Aufnahme eines Ereignisses in die Kollektiverinnerung normalerweise entscheidet, ist die Sonderung des „Lebensdienlichen vom nicht Lebensdienlichen“, so die bekannte Erinnnerungsforscherin Aleida Assmann.

Allerdings kann Assmann die Sonderrolle des Holocaust im öffentlichen Bewußtsein nicht wirklich erklären und empfiehlt den Deutschen daher ein mehrgleisiges Geschichtsbewußtsein. Daraus folgert Jureit die generelle Brüchigkeit ihrer Theorie der „kulturellen Arterhaltung“, ohne allerdings einen Alternativentwurf aufbieten zu können. Sie verweist nur auf eine „universale Rechtfertigungsordnung“, deren „universale Gedächtniskrone“ der Holocaust darstelle. Das freilich ist weder Erklärung, Trost noch Rechtfertigung für die deutsche Schuldversessenheit. Es impliziert jedoch, daß der gegenwärtige Universalismus den Deutschen abschneidet und verbietet, was ihnen als Nation lebensdienlich ist.

Christian Schmidt beschäftigt sich im zweiten Teil des Buches mit den Grundlagen der Vergangenheitspolitik, insbesondere mit Theodor Adornos „Negativer Dialektik“ (1966) und dem 1967 erschienenen Klassiker der Mitscherlichs. Die ungeheure Wirkung und Nachwirkung der „Unfähigkeit zu trauern“ steht im grotesken Mißverhältnis zu seiner wissenschaftlichen Qualität. Sie erklärt sich daraus, daß das Buch ein „Deutungsangebot für den moralischen Zustand der Nachkriegsrepublik“ lieferte. Es half der 68er-Generation, sich selber als Opfer und „Entronnene“ ihrer nazistisch kontaminierten Eltern zu fühlen und eine „vulgäre ödipale Dramatik“ ins Weltgeschichtliche zu projizieren. Zugleich eröffnete der Auschwitz-Rekurs – wie das Beispiel Joschka Fischers zeigt – reale Machtoptionen. Weiterhin spielte der Wunsch hinein, die Rache der Opfer „durch nachträgliche Eingemeindung und Heiligsprechung abzuwehren“.

Zum bevorzugten Objekt dieser „Gegenidentifizierung“ wurde der „jüdische Intellektuelle als mehrdeutige Inkarnation des Opfers, als das man sich selber fühlte“. Dieser „Andere“, den die Elterngeneration gefürchtet und eliminiert hatte, war jetzt der „geliebte Andere“, den man vermißte. Aus Fremdheit wurde ein „Liebesprogramm“, Fremdenfeindlichkeit wurde in Fremdenliebe  verwandelt. Die Bitte „Ausländer, laßt uns mit den Deutschen nicht allein!“ leitet sich ab aus diesem Defekt.

So bestechend Schneiders Analyse ist, so banal ist der Ausweg, den er weist. Er appelliert an die Deutschen („an uns“), die eingetretenen Verluste als solche zu akzeptieren und sich von der Hoffnung zu verabschieden, sie durch geschichtspolitische Operationen rückgängig machen zu können. Das Buch endet exakt dort, wo eine Fundamentalkritik einsetzen müßte.

Sein grundsätzliches Defizit besteht darin, daß Jureit und Schneider nur eine Binnenperspektive zulassen und über die Erinnerungspolitik schreiben, als handele es sich um Eigenbewegungen des Geistes und der Moral. Historische und politische Umstände – außenpolitische zumal – bleiben außer Betracht. Das Buch „Charakterwäsche“ von Caspar von Schrenck-Notzing oder der Sammelband „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“, der die Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule beleuchtet, kommen nicht vor. Diese zeigen aber, wie eine planvolle und langfristig angelegte Personal-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik genau das kranke Bewußtsein geformt hat, dessen Zuckungen die Autoren jetzt analysieren.

Der von Christian Schneider entdeckte Wunsch, der Rache der Opfer durch Eingemeindung zu entgehen, ist nichts anderes als das von Arnold Gehlen formulierte Bestreben besiegter beziehungsweise „widerlegter“ Nationen, die fehlenden praktischen Handlungsmöglichkeiten durch Missionierung zu kompensieren und auf diese Weise Schonung zu erlangen. Dieses Streben und die subalterne Stellung Deutschlands innerhalb der „universalen Rechtfertigungsordnung“ lösen auch die Widersprüche in Assmanns Gedächtnistheorie auf.

In einem bestimmten Maße war die Missionierung erfolgreich: Weltweit gilt die deutsche Vergangenheitsbewältigung als vorbildlich; nur die Schonung bleibt aus, und das Rad der Erinnerung dreht sich immer hektischer. Kein Wunder, denn „ohne die relativierende Kraft der konkreten Erinnerung werden die Schuldgefühle zu Erinnyen, deren Rachedurst mit jedem Opfer, das ihnen gebracht wird, wächst“ (Peter Furth).

„Konkrete Erinnerungen“ heißt auch, geschichtliche Ereignisse begreifbar zu machen, indem man sie in ihren historischen Kontext stellt, sie historisiert. Von der Historisierung des Holocaust weiß Schneider aber nur, daß es sie „nie wird geben können“. So wird aus dem Aufklärer am Ende ein Dogmatiker und ein Verteidiger des bundesrepublikanischen Hamsterrades. Schade drum.

Ulrike Jureit/ Christian Schneider: „Gefühlte Opfer“. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Klett Cotta, Stuttgart 2010, gebunden, 253 Seiten, 21,95 Euro

Foto: Deutsche Schüler besuchen Auschwitz: Versöhnung bleibt in eine unabsehbare Zukunft verschoben

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