© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/10 15. Oktober 2010

Sarrazin, Strache und Seehofers rechte Lockerungsübungen
Der Zeitgeist hat sich gedreht
Dieter Stein

Bei CDU und CSU liegen die Nerven blank. Fallende Umfragewerte, eine verlorene Landtagswahl im Frühjahr im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW, der verstolperte Start der schwarz-gelben Koalition im Bund – es ist vieles zusammengekommen. Die wahlfreie Zeit nähert sich ihrem Ende. Im März 2011 wird in drei Bundesländern gewählt – Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Es drohen schwere Schlappen und Machtverlust für die CDU. Seit der vergangenen Woche bemüht sich deshalb die Partei, mit einer Serie sogenannter Regionalkonferenzen frustrierte Mitglieder zu mobilisieren.

Merkels glückloser CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe tingelt mit der Parteichefin durch die Republik und umwirbt plötzlich die zuvor arrogant verprellte konservative Basis. Unter dem kuscheligen Motto „Wir müssen reden“ will Gröhe sich an alle wenden, denen Deutschland, „unsere Heimat“, am Herzen liegt. Als die Parteispitze im Februar mit ihrer „Berliner Erklärung“ die CDU noch weiter auf den Linkskurs einer konturenlosen „modernen Großstadtpartei“ trimmte, ahnte sie nicht, welche Lawine sie lostreten und sich dabei zielsicher gegen das Hauptthema des Jahres wenden würde, das die Deutschen wie selten bewegt. Der CDU-Linkstrend ist „megaout“, stattdessen reüssieren konservative Themen.

Die konservative politische Agenda des Jahres wurde der Merkel-Truppe dabei gerade nicht von einem CDU-Vordenker, sondern von einem Sozialdemokraten diktiert: mit Thilo Sarrazins inzwischen in Millionen-Auflage gedrucktem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“. Seine schnörkellose Sprache wirkt wie ein Befreiungsschlag für die von Tabus verstellte Debattenkultur. Klartext statt Geschwafel. Eine wachsende Zahl von Deutschen sehnt nun eine politische Kraft herbei, die mit der blauäugigen Einwanderungspolitik Schluß macht und die massiven Fehlsteuerungen des Transferstaates beseitigt. Merkel verlor entscheidende weitere Sympathiepunkte, als sie sich gegen Sarrazin stellte, die CDU an Zustimmung, als Bundespräsident Wulff (CDU) von einer „bunten Republik Deutschland“ phantasierte.

Der fulminante Sieg der nationalfreiheitlichen FPÖ in Wien, deren Vorsitzender Strache mit dem Slogan „Sarrazin statt Muezzin“ und 27 Prozent triumphierte, der Rechtsliberale Islamkritiker Geert Wilders aus Holland, auf den sich jetzt eine bürgerliche Regierung stützen muß – all dies sind Menetekel für die CDU, die offensichtlich verkennt, welche anhaltenden tektonischen Verschiebungen die Sarrazin-Debatte in der Bevölkerung auslöst.

Die Union steckt in einer existentiellen politischen Krise. Oberflächliche und konsequenzlose rhetorische Zugeständnisse an den „Sarrazin-Zeitgeist“, wie von CSU-Chef Seehofer zur Einwanderung, werden sie nicht retten können.

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