© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/10 15. Oktober 2010

Von Sozi zu Sozi
Zweischneidige Fürsprache: Ausgerechnet Hans-Ulrich Wehler springt Thilo Sarrazin bei
Karlheinz Weissmann

Es gilt nach wie vor der Grundsatz: Eine Wahrheit ist dann eine Wahrheit, wenn sie ein Linker ausspricht. Das erklärt auch etwas von der Wirkung der Thesen Thilo Sarrazins, in jedem Fall erklärt es etwas von der Wirkung des Zuspruchs, den er jetzt durch den Historiker Hans-Ulrich Wehler erfährt, von „Sozi“ zu „Sozi“, wie Sarrazin den Vorgang selbst kommentierte.

Wehler hat zuerst in einem Beitrag für die Zeit, dann in Interviews für die Frankfurter Allgemeine und den Berliner Tagesspiegel, deutlich gemacht, daß er die ganze Aufregung um die Argumentation Sarrazins unverständlich findet: „Nach dem Eklat um die Leugnung von Unterschichten und nach der realitätsverweigernden Fehlsteuerung der ersten Phase der Sarrazin-Diskussion verdient es die zweite Phase, daß in freier Meinungsäußerung möglichst alle angeschnittenen Probleme mit pragmatischer Liberalität und frischer Aufgeschlossenheit erörtert werden.“

Zwar hält Wehler nichts von Sarrazins Verweis auf die Erblichkeit von Intelligenz und die Intelligenzunterschiede zwischen Völkern, stellt aber fest, daß man ihm, was die fehlgeschlagene Eingliederung der Zuwanderer und den mangelnden Aufstiegswillen der Unterschicht betreffe, beipflichten müsse.

In bezug auf den ersten Punkt hat Wehler selbst schon 2002 mit außergewöhnlicher Schärfe seine Position deutlich gemacht und darauf hingewiesen, daß es in Deutschland ein „Türkenproblem“ gebe, daß ein Beitritt der Türkei zur EU verhindert werden müsse und die aus dem Vorderen Orient Zugezogenen wegen ihrer Mentalität und religiösen Prägung weder willens noch fähig seien, einen Platz in der modernen Industriegesellschaft zu finden.

Damals wie heute haben Bürgerliche auf die Einlassungen Wehlers mit Wohlwollen reagiert, allerdings immer übersehen, in welchen Zusammenhang diese Stellungnahmen eingebettet werden müssen. Denn Wehler gehört zu einer Gruppe von Wissenschaftlern und Intellektuellen, die als Angehörige der „Flakhelfergeneration“ (Günter Maschke) nach 1945 einen denkbar negativen Einfluß genommen haben. Wahrscheinlich würde sich Wehler wie sein Freund Jürgen Habermas als geratenes „Produkt der ‘reeducation’“ bezeichnen, ein Mann, der seine Karriere in der Nachkriegszeit ganz wesentlich der Bereitschaft verdankte, daß er den Geist der neuen Zeit und der neuen Herren rasch und klug erfaßte und sich gleichzeitig der Protektion derjenigen erfreute, die ein paar braune Flecken zu verbergen trachten mußten.

Wehler gehörte zum ersten Schub des akademischen Nachwuchses, der seine geistige Prägung bei Studienaufenthalten in den USA erhielt. Seine Universitätskarriere begann mit gewissen Schwierigkeiten (ein Mal wurde ihm die Habilitation verweigert, ein zweites Mal bloß unter Schwierigkeiten zugesprochen), aber dann galt er rasch als der Verfechter einer modernen, das heißt „westlichen“ Methode „Historischer Sozialwissenschaft“, die die deutsche Tradition der Geschichtsschreibung für obsolet erklärte.

Parallel dazu machte er sich einen Namen als Ideologe der westernization, an deren Ende die Deutschen in weitem Schwung den „Sonderweg“ verlassen und auf jenen Heilsweg kommen sollten, den Angelsachsen und Franzosen vor ihnen beschritten hatten. Fragt man sich, wie seine bizarren Thesen zu Bismarcks „Bonapartismus“ und zum deutschen Imperialismus oder zur Geschichte der wilhelminischen Zeit zustande kamen, dann findet man eine Antwort in dieser Art von weltanschaulicher Fixierung und letztlich im Trauma der Niederlage, die er zusammen mit seinem HJ-Kameraden Habermas in Gummersbach erlebt und dadurch verarbeitet hatte, daß er mit allem brach, was bis dahin Geltung hatte.

Zentrale Bedeutung für die Geschichtspolitik der alten Bundesrepublik gewann Wehler seit den siebziger Jahren als Haupt der „Bielefelder Schule“. Eine Position, die er nutzte, um sich auch jenseits des Wissenschaftsmanagements Einfluß zu sichern. Sein Ton in den Debatten war immer selbstgewiß, hochfahrend, meistens ruppig; unvergessen die Verdächtigungen, die er 1982 angesichts der „Wende“ von sich gab, die Invektiven, mit denen er 1986 Ernst Nolte oder Andreas Hillgruber während des von ihm maßgeblich mitverschuldeten „Historikerstreits“ überhäufte, oder der Widerwille gegen die Wiedervereinigung.

Nun könnte man über all das hinweggehen und mit Genugtuung feststellen, daß Hans-Ulrich Wehler heute eben zu besseren Einsichten gekommen ist. Allerdings wäre eine Voraussetzung für solche Großzügigkeit, daß wenigstens das eine oder andere selbstkritische Wort fiele über die Rolle, die die progressive Intelligenz beim „Machtwechsel“ 1969 spielte; über das Integrationsdesaster der Gegenwart als Konsequenz der „postnationalen“ Utopie und seines eigenen Versuchs, „zu einem wünschenswerten westdeutschen Identitätsbewußtsein“ zu kommen; über den maßgeblichen Einfluß der Linken bei der Zerstörung des Schul- und Hochschulwesens, der Denunziation des Leistungswillens, der Durchsetzung des Egalitarismus, alles Vorgänge, die sich heute in massenhafter Bildungsverweigerung auswirken. Aber nichts davon ist bei Wehler zu finden, der entweder unwillens oder unfähig ist, zu begreifen, daß die große Krise, vor der wir stehen, Konsequenz einer Entwicklung ist, die er ganz wesentlich unterstützt, wenn nicht vorangetrieben hat.

Es gibt noch eine Erinnerung an die patriotische Sozialdemokratie der Nachkriegsjahre, an Kurt Schumacher, den ersten Vorsitzenden der SPD, der gegen Adenauer den Bannfluch „Kanzler der Alliierten“ schleuderte; an Oberbürgermeister Ernst Reuter, den Verteidiger (West-)Berlins gegen die sowjetische Blockade; an Wilhelm Kaisen, den langjährigen Bürgermeister von Bremen, der den Wiederaufbau der Stadt betrieb und in öffentlicher Rede äußerte, die Alliierten seien durch Versailles hundertmal schuldiger am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als alle anderen Nationen; an Georg Leber, den „Vater der Soldaten“.

Mit etwas gutem Willen kann man Sarrazin in diese Tradition stellen, aber Wehler nicht.

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