© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/10 15. Oktober 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Verteidiger des Abendlandes
Karl Heinzen

Mit seiner Rede zum 3. Oktober hat Bundespräsident Christian Wulff versucht, dem deutschen Nationalfeiertag einen neuen Impuls zu geben, indem er nicht mehr nur die schon seit langem hergestellte Einheit zwischen Ost und West, sondern endlich auch einmal jene zwischen Einwanderern und mehr oder weniger Alteingesessenen beschwor. Seine Absicht, Brücken zu schlagen, ist jedoch nicht aufgegangen. De facto hat er sogar die sich nicht zuletzt in der Sarrazin-Debatte manifestierende Spaltung der Gesellschaft vertieft.

Bereits sein zaghafter Hinweis, daß der Islam heute zu Deutschland dazugehöre, ließ insbesondere in den Reihen der Unionsparteien die Alarmglocken erklingen. Einwanderer muslimischen Glaubens, so die Kritik, dürften nicht den Anspruch erheben, daß ihr religiöses Bekenntnis auf Augenhöhe mit dem christlichen oder jüdischen wäre. Deutschland wolle zwar sie als neue Bürger, nicht jedoch den von ihnen eingeschleppten Islam integrieren. Umfragen zufolge sollen zwei Drittel der Bevölkerung diese Kritik an den Worten des Bundespräsidenten teilen, was insofern beachtlich ist, als die Zahl bekennender und praktizierender Christen weitaus niedriger zu veranschlagen sein dürfte.

Das Fundament Europas ist die griechisch-römische und mithin „heidnische“ Antike.

Christian Wulff hat jedoch die abendländische Kultur, wie sie sich als Ergebnis von mehr als 2500 Jahren Geschichte unterdessen darstellt, nicht preisgegeben, sondern ihren Kernbestand gegen jene verteidigt, die die Konsequenzen der Aufklärung nicht wahrhaben wollen. Die Gemeinwesen Europas verstehen sich heute als säkulare, die die freie Entfaltung des Individuums in den Mittelpunkt stellen. Dem einzelnen steht es frei, zu glauben, was er will, solange er die Bekenntnisfreiheit seiner Mitmenschen nicht in Frage stellt.

Die christlich-jüdische Tradition zur maßgeblichen in einer „Leitkultur“ zu erheben, ist überdies unstatthaft. Das Fundament Europas ist die griechisch-römische und mithin „heidnische“ Antike. Demokratie und Menschenrechte wurden den feudalen Eliten des christlichen Staates in der Neuzeit mühsam abgerungen. Es gilt daher, einer gefährlichen Dialektik zu entrinnen. Die Panik, daß das öffentliche Leben dereinst der Scharia unterworfen sein könnte, darf nicht dazu verleiten, christlich-fundamentalistischen Parallelgesellschaften der Autochthonen Einfluß zu gewähren.

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