© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/10 15. Oktober 2010

Entchristlichung Deutschlands
Abschied vom Kreuz
Andreas Püttmann

Der Langzeittrend christlicher Religiosität in Deutschland zeigt – allen Schönungsversuchen zum Trotz – eine so massive Erosion an, daß man im historischen Maßstab eigentlich von einer Implosion  sprechen muß. Während die Zahl der Christen im Weltmaßstab, insbesondere in Asien und Afrika wächst, befinden sich die Kirchen in Deutschland und weiten Teilen des friedens- und wohlstandsverwöhnten westlichen Europas seit Jahrzehnten in einem Prozeß der  geistlichen Auszehrung, der Verdunstung des Glaubens, der Schrumpfung der Gemeinden, der Vertrauenskrise als gesellschaftlicher Institution.

In Deutschland fühlten sich bei einer Allensbacher Umfrage 2005 nur zehn Prozent der Befragten der Kirche eng verbunden. Weitere  25 Prozent antworteten: „Ich fühle mich meiner Kirche verbunden, auch wenn ich ihr in  vielen Dingen kritisch gegenüberstehe“  –  zusammen also rund ein Drittel der Bevölkerung. Nur jeder sechste fand mehr  kirchlichen Einfluß in der Gesellschaft wünschenswert, eine Zweidrittelmehrheit wählte die ablehnende Antwort, jeder fünfte war unentschieden.

Nicht einmal die Hälfte der Christen wünschte sich einen Bedeutungszuwachs des Glaubens. Bei einer Repräsentativumfrage von „Perspektive Deutschland“ 2004 erklärten 58 Prozent, der katholischen Kirche „nicht“ oder „eher nicht“ zu vertrauen; der evangelischen drückten 39 Prozent das Mißtrauen aus.

Überhaupt ist das Image der evangelischen Kirche freundlicher – und ihre Bindekraft trotzdem geringer: Die Zahl der Protestanten in Deutschland sank seit 1950 von rund 43 auf 25 Millionen – und damit ungefähr auf das Niveau, welches die katholische Kirche 1950 als Minderheitenkonfession hatte und auf dem sie heute nach einem zwischenzeitlichen Zuwachs wieder angelangt ist. Seit 1970 traten fast 3,8 Millionen katholische Christen und 6,6 Millionen evangelische aus ihrer Kirche aus, zusammen also ein Aderlaß von über 10 Millionen, der nur zu etwa einem Achtel  durch (Wieder-)Eintritte kompensiert werden konnte.

Handelte es sich bei den Austretenden früher überdurchschnittlich häufig um Besserverdienende, höher Gebildete, Städter, Ledige und Männer, so wird der Austritt heute „nicht mehr vermehrt  von der modernistischen Avantgarde der Gesellschaft vollzogen, sondern ist zu einem in die Breite der Bevölkerung hineinwirkenden Phänomen geworden“, stellt der Religionssoziologe Detlef Pollack fest.Der Bevölkerungsanteil der Christen in der Bundesrepublik sank in den zwanzig Jahren vor der Wiedervereinigung von rund 93 auf 83 Prozent, rutschte durch diese dann nochmals um zehn Prozent ab und fiel in den zwanzig Jahren seitdem erneut um etwa zehn Prozent.

Die christliche Religion in Deutschland leidet an geistlicher Auszehrung. Der Glaube verdunstet, die Gemeinden schrumpfen, und  die Kirche als gesellschaftliche Institution wankt. In 40 Jahren haben die „Volkskirchen“ ein Drittel ihrer Mitglieder verloren.

In nur vierzig Jahren hat die Republik also ein Drittel ihres christlichen Bevölkerungsanteils verloren – von der Glaubenssubstanz der verbliebenen „eingeschriebenen Christen“ ganz zu schweigen: „Selbst Kirchenmitglieder zweifeln an zentralen Glaubensinhalten ihrer Konfessionen. So glauben nur 58,7 Prozent der Katholiken und 47,7 Prozent der Protestanten, daß Gott die Erde  erschaffen hat. Noch weniger glauben an die Empfängnis durch den Heiligen Geist oder die Auferstehung der Toten“ (Focus 52/2005). „Nur noch ein kleiner Teil der Gläubigen kennt sich im Koordinatensystem des Christentums aus. Die Mehrheit hat einen diffusen Glauben und merkt gar nicht, wenn sie sich in Widersprüche verwickelt“ (Der Spiegel 33/2005). Infratest-Werteforscher Thomas Gensicke konstatiert: „Das Christentum ist vielen nur noch  der kulturelle Hintergrund, auf dem die Menschen sich ihre Religion zurechtlegen. Sich auf das christliche Abendland zu beziehen, bedeutet nur noch Abgrenzung zum Islam. Dabei berufen sich die  Deutschen auf etwas, das sie nicht kennen und dessen Verbindlichkeiten sie nicht gutheißen würden.“ Der frühere Paderborner Erzbischof Johannes Joachim Kardinal Degenhardt prägte 1988 vor  der EKD-Synode in Bad Wildungen für solche Art Christentum das Wort von den „getauften Heiden“.

Die quantitative wie qualitative Erosion des Christentums zeigt den Zusammenbruch einer jahrhundertealten „Leitkultur“ an – unabhängig von der immer wieder im Kontext von „Überfremdung“ oder „Islamisierung“ angestoßenen Debatte über diesen Begriff. Denn eine christliche Kultur wird ohne christlichen Glauben auf Dauer nicht zu haben sein. Konkret: Mehr als neue Minarette verändern die „Umwidmung“ und der Abriß von Kirchen das Gesicht Deutschlands.

Symptomatisch für die Selbstaufgabe unserer christlichen Identität ist die Aussage der Regierungschefin der größten europäischen Nation – einer erklärten  Christdemokratin –, die 2007 in einer feierlichen Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg als „Seele Europas“ nicht mehr das Christentum nannte, sondern nur noch „die Toleranz“. So notwendig und moralisch hochwertig diese Tugend auch sein mag – Werte generiert sie nicht. Sie setzt sie vielmehr voraus. Was nun? Was tun, wenn man erkennt, daß Deutschland und weite Teile Europas in beträchtlicher Geschwindigkeit an christlicher Substanz einbüßen und damit nicht bloß ein religiöses  Vakuum  entsteht, sondern auch das politische, ökonomische, soziale und kulturelle Fundament der westlichen Zivilisation zu erodieren droht?

Daß sich ganze Gesellschaften faktisch von einer so wichtigen Humanitätsressource lossagen, kann einem  schon Furcht einflößen, auch dem, der normalerweise von Alarmismus und den in Deutschland seit den achtziger Jahren beliebten „Angst“- und „Betroffenheits“-Bekenntnissen nichts hält. Sich damit zu trösten, daß der morgige Tag schon nicht viel anders sein werde als der heutige und auch die kommenden Wochen und Monate, vielleicht Jahre mit großer Wahrscheinlichkeit keine ganz anderen sein werden, verleitet zur Verdrängung.

Woran es den Kirchen heute am meisten fehlt, ist das persönliche Zeugnisgeben der Gläubigen in einem immer glaubensfremderen Umfeld. Nur so könnte aber der geistlichen Versteppung unseres  Landes, dem der heilige Bonifatius vor über 1.200 Jahren die Frohe Botschaft brachte, wirksam begegnet werden – und nicht durch heißlaufende Drucker und Fotokopiergeräte in Generalvikariaten und Pfarrbüros; wohl kaum durch die „sakramentale Grundversorgung“, die, oft nur als zeremonielle Staffage mißbraucht, von einer schrumpfenden Zahl von Klerikern mühevoll aufrechterhalten wird; und gewiß auch nicht durch einen Religionsunterricht, der leider nicht selten auf eine Art „Lebenskunde“ oder „Weltverbesserungslehre“ reduziert ist.

 Glaube wird nur durch Gläubige weiterverbreitet, die andere anstecken mit ihren Hoffnungen und Erfahrungen, ihrem Suchen und Vertrauen. Wenn die einzelnen Glaubenszeugen gleichsam als Zahnräder fehlen, läuft die kirchenamtliche Maschinerie auf Volldampf im Leerlauf. Fast jeder dritte hatte laut Allensbach 2006  den Eindruck, „die beiden großen Kirchen in Deutschland, also die evangelische und die katholische Kirche“, bemühten sich gar nicht, „die Leute vom Glauben zu überzeugen“.

Den Christen mangelt es an Bekenntniswilligkeit und -fähigkeit. Wo selbst Priester an der Auferstehung zweifeln, verkommt der Gottesdienst zur zeremoniellen Staffage. Während das europäische Christentum verwelkt, blüht es außerhalb Europas auf.

Das Schwinden der Bekenntnisbereitschaft entspricht Elisabeth Noelle-Neumanns Theorie der „Schweigespirale“. Danach wollen Menschen sich nicht isolieren und verfallen zunehmend in Schweigen, wenn ihre Überzeugung an Boden verliert. Falls diese Isolationsfurcht der Grund für das Verstummen der christlichen Rede von Gott sein sollte, wäre sie nur teilweise berechtigt. Der religiöse Mensch wurde zumindest noch in einer Allensbacher Umfrage von 1989 in der Bevölkerung weitaus positiver gesehen als der Atheist: Man hielt ihn eher für verläßlich und tolerant, für zufrieden und fröhlich, für interessiert an anderen Menschen, engagiert für die Gerechtigkeit und hilfsbereit gegenüber Bedürftigen. Den Atheisten vermutete man zwar als fortschrittlich, aber auch als gleichgültig, selbstgerecht und materialistisch.

 Daß man „durch den Glauben, wenn man ihn ernst nimmt, ein besserer Mensch“ werde, meinte im März 2006 eine knappe Mehrheit (44 zu 42 Prozent) der Westdeutschen und immerhin ein Viertel der Mitteldeutschen, insgesamt also mit 40 Prozent der Bevölkerung weit mehr Menschen als am kirchlichen Leben halbwegs regelmäßig teilnehmen. Gregor Gysis Haltung, auch er als Nichtgläubiger fürchte eine gottlose Gesellschaft, ist also Ausdruck eines verbreiteten Respekts. Daran könnte die kirchliche Kommunikation stärker anknüpfen. Die Institution Kirche aber darf auf ihre biblische „Bestandsgarantie“ (Mt 16,18) vertrauen und sich daran erinnern, daß sie in ihrer 2000jährigen Geschichte schon viele Wechselfälle der „öffentlichen Meinung“ überstand – beginnend mit dem „Hosianna!“ und dem  „Kreuzige ihn!“ über ihren Stifter.

Man kann die Kirchengeschichte  mit Mechthild Löhr als „eine unglaubliche Erfolgsstory wirksamer Kommunikation“ betrachten: „Aus einem winzigen besetzten Land werden einfache Leute aus dem Volk, größtenteils Analphabeten, Fischer, Handwerker, die zunächst kaum jemals über den Jordan, die Stadt Jerusalem und den See Genezareth hinausgekommen sein dürften, zu den überragenden Zeugen und Säulen einer sich durch die Jahrhunderte ausbreitenden Weltreligion, die heute nahezu 2 Milliarden Menschen umfaßt.“

Einer Religion, der dies gelungen ist, darf man auch in Zukunft  viel zutrauen, jedenfalls in globaler Perspektive. Das „Päpstliche Jahrbuch 2010“ der weltweiten römisch-katholischen Kirche meldete einen Zuwachs ihrer Mitglieder von 19 Millionen gegenüber dem Jahr zuvor; der Anteil der Katholiken an der Weltbevölkerung stieg damit auf 17,4 Prozent. Die Zahl der Priester nahm zwischen den Jahren 2000 und 2008 um rund 4.000 auf 409.166 zu.

Nach einer Schätzung von David Barrett und Todd Johnson wird der Anteil der Christen an der Weltbevölkerung von 33 Prozent bis 2025 weiter leicht auf 33,4 Prozent gestiegen sein, der Anteil von Nichtreligiösen und Atheisten von 15 Prozent auf 13,2 sinken; bei einem stagnierenden Anteil von 13,4 Prozent Hindus werden die Moslems, die heute  ein Fünftel der Weltbevölkerung stellen, allerdings am stärksten zunehmen, auf etwa 23 Prozent.

In fünf von sechs Kontinenten ist  das Christentum heute die Mehrheitsreligion. Der Soziologe Ulrich Beck konstatiert: „Nicht das Christentum stirbt aus, sondern das europäische Christentum ist in einigen seiner nationalen Hochburgen, auch in Deutschland, mit einer rapiden Entleerung der Kirchen konfrontiert“; die Säkularisierung laufe nur „auf eine Enteuropäisierung des Christentums hinaus. Das außereuropäische Christentum blüht auf, das europäische verwelkt.“ So gesehen kann man die prekäre Situation des christlichen Glaubens in Deutschland und Europa besorgt, aber auch getrost als Regionalausschnitt und Momentaufnahme in einer langen christlichen Tradition betrachten, in der stets die Hoffnung auf die Kraft des Geistes Gottes das letzte Wort behalten hat.

 

Dr. Andreas Püttmann ist Politikwissenschaftler und Publizist. Bis 2002 war er Referent der Konrad-Adenauer-Stiftung. Journalistisch betätigte er sich unter anderem beim WDR-Hörfunk und beim Rheinischen Merkur.

Foto: Abgehängtes Kruzifix: Auch aus dem Alltag der Deutschen verschwindet das Symbol der Christenheit  zusehends.

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