© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/10 22. Oktober 2010

Gerede ohne Konsequenz
Nach der Debatte über Integration muß eine scharfe Kehrtwende bei der Zuwanderung folgen
Michael Paulwitz

Thilo Sarrazin und Kirsten Heisig, Güner Balci und die vom deutschenfeindlichen Mobbing entnervten GEW-Lehrer, dazu Millionen Buchkäufer, Kommentar- und Leserbriefschreiber, die von diesen Autoren aus ihrem resignativen Mittelschichtsfrust aufgerüttelt wurden: Sie treiben seit Wochen die Politik vor sich her. Widerwillig erklärt selbst die Kanzlerin „Multikulti“ für „gescheitert“, und die politischen Trendschnüffler überbieten sich mit markig klingenden Forderungen zur Einwanderungs- und Integrationspolitik, für die sie noch vor kurzem jeden Kollegen oder Konkurrenten bedenkenlos vors Peloton gestellt hätten. Ist die Botschaft tatsächlich angekommen?

Freuen wir uns nicht zu früh. Daß die Grenzen der Aufnahmefähigkeit erreicht seien und man nicht mehr jeden hereinlassen könne, daß man Zuwanderer, die sich nicht an die Spielregeln hielten, hinauskomplimentieren solle, „und zwar schnell“ – das alles erzählen uns Spitzenpolitiker aller Parteien seit über vier Jahrzehnten im Legislaturperiodentakt. Doch die einwanderungsinduzierten Probleme für Staat und Gesellschaft sind in dieser Zeit explodiert wie die Staatsverschuldung.

Die Crux mit all den eilig hervorgezauberten Forderungen, Aktionsplänen und Debattenbeiträgen ist ja gerade diese: Daß es in der Regel beim vorübergehenden Fordern, Debattieren und Ankündigen bleibt, um das mißtrauisch gewordene Volk kurzfristig abzulenken, bis die Aufregung wieder vorbei ist. Wollte man nämlich aus den alarmierenden Mißstandsdiagnosen tatsächlich wirksame Konsequenzen ziehen, käme man um einen grundlegenden Umbau des gesellschaftlichen Systems und wesentlicher Politikbereiche nicht herum. Keine Korrektur der einwanderungspolitischen Fehlsteuerungen käme daran vorbei, das bestehende Sozialstaatssystem grundsätzlich in Frage zu stellen. Soziale Transfersysteme, die zur Einwanderung fremdländischer Unterschichten und zur Erweiterung und Verfestigung des einheimischen Prekariats ermuntern, sind mit einer am nationalen Interesse ausgerichteten Bevölkerungs- und Einwanderungspolitik nicht zu vereinbaren.

Hilflos klammert sich die politisch-mediale Elite an ein überholtes Patentrezept: Wenn es Probleme gibt, müssen Sozialarbeiter, Betreuer und Sozialleistungen her; werden die Probleme davon größer statt geringer, brauchen wir von allem noch mehr. Eine Sozial- und Integrationsindustrie, die vom Nichtlösen der ihr übertragenen Aufgaben lebt, hat sich davon jahrzehntelang prächtig genährt und krakenartig ausgebreitet und ist entschlossen, ihre Existenzgrundlage mit jedem unfairen Mittel, NS-Keule inklusive, zu verteidigen. Wer wagt es, sich mit diesem Moloch anzulegen? Und wer hat den Mut, den Bürgern zu sagen, daß sie sich zwischen Wohlfahrtsstaat und Einwanderungsland entscheiden müssen? „Echte“ Einwanderungsländer sieben hart aus, wen sie hereinlassen, und bieten den Neubürgern dann jede Chance, aber keine Rundum-sorglos-Vollversorgung. Das zieht die Besten, Aufstiegswilligsten an und schreckt bloße Kostgänger ab.

Voraussetzung für einen sozialen Wohlfahrtsstaat wie den deutschen ist dagegen Abschottung und Homogenität. Öffnet er sich unterschiedslos für jeden und nimmt allen zufällig Anwesenden die Existenzrisiken ab, lockt er die Unproduktiven und vergrault die Leistungsträger. Schon deshalb ist Deutschland kein Einwanderungsland und kann es nicht sein. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß planlose Zuwanderung jahrzehntelang passiv hingenommen wurde; aller Propaganda zum Trotz macht das Ergebnis Deutschland nicht zum „Einwanderungsland“, solange es sich nicht so verhält.

Die Wirtschaftslobbyisten in Verbänden und Parteien, die mit dem Märchen vom „Fachkräftemangel“ aus egoistischem Profitinteresse in schönster Kampfgenossenschaft mit den Propagandisten der Sozialindustrie Druck machen für eine weitere Senkung der Zuwanderungshürden, muslimische Länder eingeschlossen, zäumen das Pferd daher von hinten auf: Bevor man darüber nachzudenken beginnt, wie erwünschte Einwanderer gewonnen werden könnten, muß zuerst einmal das Problem gelöst werden, nicht wünschbare, verdeckte und unkontrollierte Zuwanderung zu verhindern. Ein Haupteinfallstor dafür ist der großzügig gehandhabte Familiennachzug, mit dem seit Anfang der Siebziger die Gastarbeiterzuwanderung aus dem Ruder lief. Wer das Integrationsdesaster von der Wurzel her kurieren wollte, müßte konsequent die Praxis der Familienzusammenführung und Heiratsmigration massiv einschränken.

Da wiederum stellt sich die Souveränitätsfrage. Die Abgabe weitreichender Kompetenzen an EU-Instanzen schränkt die Freiheit der Staaten, Entscheidungen im nationalen Interesse zu treffen, erheblich ein. Gleichstellungsregeln für die Gewährung von Sozialleistungen und Richtlinien zur europaweiten Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit stehen notwendigen Korrekturen im Wege. Wer es ernst meint, muß sich also nicht nur mit der einheimischen, sondern auch mit der europäischen Einwanderungslobby anlegen. Das ist unangenehm und verursacht viel Gegenwind. Horst Seehofer ist beim ersten Lüftchen in die Knie gegangen, Frankreichs Sarkozy erwies sich im Umgang mit illegalen Zigeunern als etwas standfester.

Unmöglich ist eine einwanderungspolitische Wende nicht, wie das Beispiel Dänemarks unter dem Einfluß der Dänischen Volkspartei zeigt, die den Regierenden dauerhaft im Nacken sitzt. Ob auch bei uns aus der inzwischen wohlfeilen Einsicht, daß „Multikulti gescheitert“ ist, diesmal endlich der faktische Abschied von einer gescheiterten Politik folgt, hängt daher entscheidend davon ab, daß nach der Debatte auch die politische Landschaft umgekrempelt wird.

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