© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/10 22. Oktober 2010

Komm aufs Sofa
Tatort-Clubs und Blind-Dinner-Agenturen: Soziale Wärmestuben liegen im Trend
Toni Roidl

In den achtziger Jahren galt Gemütlichkeit als das Allerletzte. Stattdessen waren Neon und Chrom angesagt. So „cool“ wie das Chrom waren auch die Gäste – introvertiert und isoliert. Die „Trendforscher“ der neunziger Jahre verlängerten dieses Zeitgeist-Phänomen linear und sagten unter dem Schlagwort „Cocooning“ eine noch weiter reichende Vereinzelung vorher: Alle allein zu Haus. Diese Prognose hat sich ebenso bewahrheitet wie die Gewinnerwartung der T-Aktie.

Stattdessen findet der Rückzug ins Private in der Öffentlichkeit statt: Die Leute nehmen ihr Wohnzimmer einfach mit in die Kneipe. Sofas vom Sperrmüll, Omas Tütenlampen und plüschige Teppiche haben allerorten die junge Club-Gastronomie erobert. Die so viel geschmähte deutsche Butzenscheiben-Gemütlichkeit ist wieder voll da, nur heißt sie heute einfach „chillig“ oder „voll retro“. Design war vorgestern – heute ist Blümchentapete.

So wie die Sperrmülleinrichtung ist auch das Konzept: Wie im „Web 2.0“ zählt der nutzergenerierte Inhalt. Heißt, der Wirt stellt nur noch die Infrastruktur – das Abendprogramm gestalten die Gäste selbst: Der eine bringt seine private Plattensammlung mit und wird selbst zum DJ, der andere zeigt persönliche Urlaubsfilme zur Unterhaltung des Publikums und beim „Poetry Slam“ wird selbstgedrechselte Lyrik vorgetragen.

Vor allem in Studentenstädten öffnen viele Kneipen schon mittags für Kicker- und Tischtennisturniere der Besucher. Wenn der „Tatort-Club“ in der Szenebar sonntags zum gemeinsamen Fernsehgucken auf dem Sofa einlädt, suchen die heranwachsenden Kinder alleinerziehender Eltern Ersatzfamilienanschluß. Hier muß man zwar bezahlen, wenn man sich ein Bier aus dem Kühlschrank nimmt, aber dafür wärmt man sich ein paar Stündchen an der sozialen „Community“. Manchen ist aber selbst die Intimität der Kuschel-Clubs noch zu unpersönlich. So wie es schon zu Goethes Zeiten „hip“ war, sich in privaten Salons zu treffen, holt man sich heute, statt das Wohnzimmer in die Kneipe zu verlegen, die Kneipe in die Wohnung! WGs laden auf Facebook Fremde zum gemeinsamen Kochen oder Küchen-Flohmarkt ein. Der Berliner Künstler Burgy Zapp will die öffentlichen Treffs in seinen Privaträumen ausdrücklich nicht als Party, sondern als Kulturforum verstanden wissen. Vor Zapps Haustür knautschten sich teils mehrere hundert Besucher, so daß der Gastgeber schon Türsteher engagieren mußte.

Der Wohnzimmer-Club     ist auf dem Vormarsch

Was für die Kneipenkultur gilt, funktioniert auch mit Restaurants: Während die Lebensmittelbranche ihre Portionierung weiter auf Singles einstellt, boomen in etlichen deutschen Städten „Blind Date Dinner“-Agenturen, die Alleinstehende gemeinsam an den Tisch bringen. Motto: Mach’ deine Küche zum Restaurant, dafür hilft der Besuch beim Schnippeln und Abwaschen. Die Kuppel-Idee fußt auf der simplen Weisheit, daß Liebe durch den Magen geht. Erst recht in privater Umgebung.

Ist der Wunsch nach geselliger Behaglichkeit ein Reflex unserer rauhen Zeiten? Eine neue Wohlfühl-Romantik? Ist der Wohnzimmer-Club das Symbol der „Generation Biedermeier“, die in der Rheingold-Jugendstudie 2010 gesichtet wurde (JF 41/10)? Auch erste bürgerliche Gastronomiebetriebe werben mit „familiärer Atmosphäre“. Beim Deutschen Hotel- und Gaststättenverband glaubt man allerdings nicht, daß sich das Phänomen von der Subkultur in den Mainstream fortsetzt. Marketingreferent Matthias Meier: „Ich sehe momentan keine Anzeichen für diesen Trend in Hotels und Gaststätten.“

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