© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

CD: Klassik
Erotisch aufgeladen
Jens Knorr

Galt noch vor Jahrzehnten der Countertenor – oder Altus – als Exot auf Konzertpodium und Opernbühne, so gibt es im heutigen Musikgeschäft geradezu eine Counter-Schwemme, befördert von ebenso verantwortungslosen wie ehrgeizigen Gesangspädagogen, die noch jeden mittelmäßigen Gesangsschüler auf Kopfstimme trimmen, als käme mit der Fistelstimme das Talent, das dem Träger der Tenorstimme fehlt. Die kometenhaften Karrieren zweier junger Stars mögen da Ohren und Hirne korrumpieren. Nur wird nicht jeder je singen können wie Max Emanuel Cencic und wie Philippe Jaroussky, genaugenommen: keiner wie sie.

Fast könnte man versucht sein, beider Stimmen in der Manier der „Voci parallele“ – so der Titel des berühmten Buches von Giacomo Lauri-Volpi – zu vergleichen, beider Biographien in der Manier Plutarchs, doch sind sie, die auch schon zusammen auf CD, in der Gesamtaufnahme von Händels „Faramondo“, zu hören gewesen sind, obgleich vom selben Fache, in der Art ihres Singens grundsätzlich verschieden.

Cencic, 1976 in Zagreb geboren, sang bereits als Kind die Partie der „Königin der Nacht“ im Fernsehen und 1991 als Wiener Sängerknabe einen der drei Knaben in Georg Soltis Einspielung der „Zauberflöte“, seit 2001 als Counter – oder Mezzosopran. Jaroussky, 1978 in Maisons-Laffitte, Département Yvelines, geboren, begann spät mit dem Gesangsstudium und hatte früh, im Jahre 1999, seinen künstlerischen Durchbruch in einer Aufführung von Scarlattis Oratorium „Sedecia“. Cencics jüngstes Album, eine Auswahl von Opern-Arien Händels, im vorigen, dem Jahr des 250. Todestags des Komponisten aufgenommen, und Jarousskys Album „Beata Vergine“, 2005 aufgenommen und schon ein Klassiker der Diskographie, in neuer Aufmachung nun unter dem Titel „Stabat Mater. Motetten für die Jungfrau Maria“, provozieren den Vergleich (Virgin Classics 50999 6945740 1 und 50999 693907 2 2).

Das eine klingt so weltlich, wie es das Publikum der Opernakademie des Unternehmers und Bankrotteurs „Handel“, das andere so religiös, wie es das des Marienkults einforderte, erotisch aufgeladen klingen beide. Jaroussky, begleitet von dem Ensemble Artaserse, stellt technische Finessen gern ein wenig aus, Cencic, begleitet von I Barocchisti unter Diego Fasolis, stürmt und drängt gern über sie hinweg. Er demonstriert Robustheit und eruptive Kraft, als müsse er das längst widerlegte Vorurteil noch einmal widerlegen, daß ein Mann, der mit einer Frauenstimme singt, „keine Eier“ (Cencic) hätte. Ein jungfräulicher Ton ist von ihm nicht zu hören.

Wo aber holt der andere, Jaroussky, seine Töne her? Cencic läßt den Mann durch seine Stimme hören, Jaroussky macht seine Stimme zum Medium eines Unsagbaren, eines Sirenengesangs, nicht von dieser Welt. Oder, mit den Worten einer Kundenrezension bei Amazon: „Eine Stimme so klar und zart und ausdrucksvoll wie ein perfekter hirnchirurgischer Eingriff. Man ist danach ein anderer Mensch.“

Wessen Gesang sollte der Hörer nun den Vorzug vor dem des andern geben? Immer dem, den er gerade hört. Leib und Seele greifen beide an.

Max Emanuel Cencic: Händel – Mezzo-Soprano Opera Arias Virgin Classics, 2010 www.emiclassics.com

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