© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Es ist nicht leicht, Gott zu sein
Das ermüdende Allwissen: Marc-Antoine Mathieus Comic schwankt zwischen Satire und Gesellschaftskritik
Harald Harzheim

Tod, Krankheit, Liebeskummer, Angst und Sinnfrage: das irdische Leben ist verdammt schwer zu ertragen. Deshalb erzählt der Mensch sich Geschichten von Göttern, die – plötzlich und unerwartet – auf der Erde erscheinen. Die lassen alles anders werden, zumindest für kurze Zeit. Als Versprechen, daß das Höllenkarussell der Existenz sich nicht ewig dreht, sondern irgendwann ausgebremst wird. Daß jemand die Macht hat, den Menschen zu erlösen.Schließlich ist der Homo sapiens sapiens mit der eigenen Optimierung restlos überfordert – mag er auch ans Gegenteil glauben. Letztlich gilt: „Nur ein Gott kann uns retten“ (Heidegger).

Andererseits zog Dostojewski in der Parabel vom Großinquisitor („Die Gebrüder Karamasow“) den Segen einer Epiphanie in Zweifel: Sein wiedergekehrter Christus muß sich vom Inquisitor eine Strafpredigt anhören. Auf ähnlicher Schiene fährt auch der französische Comiczeichner Marc-Antoine Mathieu, dessen Bildband „Gott höchstselbst“ jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt.

Man stelle sich vor: Eines Tages taucht ein älterer Mann mit langem Haar und Bart auf und sagt, er sei Gott. Was passiert? Genau, man bringt ihn zum Psychiater. Der erstellt einen Persönlichkeitstest, kommt aber den klugen Antworten des „Patienten“ nicht bei. Also ab in die Hirnforschung, wo sich herausstellt, daß Gott nicht nur die üblichen 10, sondern 99,91 Prozent seiner Hirnkapazität nutzt. (Die restlichen 0,09 Prozent dienen der Selbstreflexion.) Im C.E.R.N.-Forschungscenter, dessen LHC das gesuchte Higgs-Boson-Teilchen noch nicht fand, malt Gott es den staunenden Physikern an die Tafel. Noch ein paar solcher Vorfälle, und der Menschheit dämmert: Es ist wirklich Gott, der auf die Erde kam.

Was aber geschieht dann? – Nichts, behauptet Marc-Antoine Mathieu, die Menschheit macht weiter wie zuvor. Einerseits findet totale Vermarktung des hohen Besuchers statt, andererseits strengen Atheisten einen Prozeß gegen ihn an, machen ihn für das Erden-Desaster verantwortlich. Anwälte schreiben ihm vor, wie er sich in der Öffentlichkeit verhalten soll, Marketingstrategen kreieren ihm ein Logo, er selbst schreibt Bestseller mit Titeln wie „Memoiren (Auszüge)“, „Was ich glaube“, „Ist der Mensch gut?“ und „Würfeln“. Der alte Gott läßt alles gleichmütig über sich ergehen, findet das eigene Allwissen höchst ermüdend.

Trotz absurder Situationen degradiert Mathieu den Stoff keineswegs zur albernen Satire. Schon seine Bilder, schwarz, grau und weiß gehalten, tauchen die Welt in ewige Nacht und Dämmerung. An zahlreichen Stellen schiebt er den Protagonisten Zitate von Blaise Pascal, Albert Einstein und C. G. Jung in die Sprechblase. Nein, hinter grotesken Situationen lauert der blutige Ernst zeitloser Sinn- und Theodizeefragen. Mathieu inszeniert die Geschichte als Rückblende. Wie beim Dokumentarfilm wird der Handlungsstrang durch Zeugenberichte unterbrochen – oder durch das unerträgliche Gequatsche der Fernsehmoderatoren „Dieter“ und „Thomas“. Beide sind von finsterster Dummheit und behalten – egal ob Gott auf Erden weilt oder nicht – verbal stets Oberhand. Das letzte Bild zeigt sie, winzig klein, vor weißem Hintergrund. Zwei Schwatzmaschinen im Nichts der Welt.

Marc-Antoine Mathieu: Gott höchstselbst. Reprodukt, Berlin 2010, broschiert, 128 Seiten, 20 Euro

Foto: Bilderfolge aus dem Comic  „Gott höchstselbst“: Bald findet sich der Allmächtige auf der Anklagebank wieder

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