© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Der Flaneur
Auf ein Bier um die Ecke
Josef Gottfried

Stadtrand von Dresden. Freitag abend. Der dicke Wirt bedient hier von elf Uhr morgens bis zehn Uhr abends, sechs Tage die Woche, und ab 19 Uhr trinkt er auch mal ein Bierchen mit. In der Kneipe wird geraucht. Ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt noch erlaubt ist. Er hat keinen Hals und keine Haare mehr, aber mit seinem frisch gezapften Pils hinter der Theke macht er einen zufriedenen Eindruck. „Irgendwann kaufe ich meinem Chef den Laden mal ab“, sagt er. Außer mir sind zwei Handwerker im dreckig-weißen Maleranzug da. Der eine ist Mitte 20 und feist, der andere vielleicht 45, breitschultrig und hager. Wir sitzen alle an der Theke. Unter dem Dunst von Kippen, Qualm und Bier liegt noch ein Geruch wie alter Schweiß und getrocknete Farbe. Die beiden lesen Zeitung und trinken langsam, was mich wundert. Der dicke Wirt nimmt ein leeres Glas und ersetzt es kommentarlos durch ein neues. Meines tauscht er auch aus, ein paarmal, so daß ich jetzt schon reichlich enthemmt bin.

„Sieht man oft in Dresden, solche Leute. Die Mädels plappern und die Jungs checken die Lage.“

Irgendwann geht die Tür auf, zwei fröhliche Pärchen kommen rein. Allesamt grad mal 20 Jahre alt. Durch die geöffnete Tür bringen sie einen Schwall frische Luft mit. Die Mädels sind mager mit schwarz-hellblond-lila gefärbten Haaren und gefranstem Pony. Die Jungs sind Kraftsportler mit schweren Halsketten, kurzen Haaren. Die Mädels haben fein verzierte künstliche Fingernägel, einer von den Jungs hat einen tätowierten Unterarm. Sieht man oft in Dresden, solche Leute. Die Mädels plappern und die Jungs checken die Lage. „Störenfriede“, denken wir vier Alteingesessenen und wundern uns. Warum sind die so ausgelassen? „Sie wünschen?“ fragt der dicke Wirt ein bißchen unwirsch. Sie wollten sich ein Taxi zur Disco bestellen. Der Dicke diktiert ihnen die Nummer ins Handy, dann gehen sie wieder. „Gut“, denken wir uns. Der Wirt ersetzt mein Glas kommentarlos durch ein neues.

 

Charakter ist ein Fels, an welchem gestrandete Schiffe landen und anstürmende scheitern.

Jean Paul (1763–1825)

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