© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/10 05. November 2010

„Als Antwort eine Partei gründen“
Walter Scheuerl und seine Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“ bezwangen im Sommer per Volksentscheid den CDU/GAL-Senat in Hamburg. Nun wollen sie selbst Politik machen.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Scheuerl, „Wir wollen lernen“ (WWL) und Sie haben im Juli in Sachen Primarschule die schwarz-grüne Landesregierung besiegt. Warum wollen Sie jetzt eine eigene Partei gründen?

Scheuerl: Weil wir zu unserem Erschrecken feststellen mußten, daß – obgleich alle Parteien erklärt haben, den im Volksentscheid zum Ausdruck gebrachten Wählerwillen umzusetzen – tatsächlich bis jetzt so gut wie nichts dergleichen passiert ist. So waren zum Beispiel zur Schaffung der Primarschule zahlreiche Schulfusionen vorgesehen. Doch statt die Fusionen nun abzublasen, sollen sie weiterhin durchgeführt werden. Obendrein sollen die neuen Schulen darüber abstimmen, ob sie es dann bei dieser Fusionsstruktur belassen wollen. Die Ergebnisse sind tendenziell absehbar, denn die Schulleiter hätten dann mehr Schüler und könnten auf eine bessere Besoldung hoffen. Abgesehen davon, daß die grüne Schulsenatorin Christa Goetsch bisher bevorzugt solche Schulleiter berufen hat, die die Primarschule befürworten. 

Die Politik hintertreibt also den Willen des Volkes?

Scheuerl: Zumindest in gewisser Hinsicht. Denn das gleiche erleben wir etwa bei den sogenannten Starterschulen. Geplant war, daß man dort freiwillig schon ein Jahr früher mit der Primarschule beginnen kann. Doch die Primarschule wurde vom Wähler verworfen. Dennoch sollen die Kinder, die dafür bereits angemeldet sind, nun solche Starterschulen besuchen. Das verstößt ganz klar gegen den Ausgang des Referendums!

Warum respektiert die Politik den Volksentscheid nicht?

Scheuerl: Wir haben den Eindruck, daß die Politik versucht, einfach so weiterzumachen wie bisher. Und das obwohl der Volksentscheid eine höhere Wahlbeteiligung hatte als hier in Hamburg die letzte Europawahl – und die Vorlage der Volksinitiative mehr Stimmen erhalten hat als etwa die SPD bei der letzten Bürgerschaftswahl. Wenn man so will, haben wir also eine höhere demokratische Legitimation als die Abgeordneten, die für Hamburg im EU-Parlament sitzen. Nun stellt sich die Frage, wie gehen wir damit um, daß sich Schulbehörde und GAL nur mit Lippenbekenntnissen zum Volksentscheid bekennen? Darauf gibt es verschiedene Antworten, die wir diskutieren.

Nämlich?

Scheuerl: Als Bürgerinitiative haben wir per Volksentscheid eine Entscheidung des Wählers erreicht. Bleiben die GAL und die Schulbehörde bei ihrer bisherigen Verweigerungshaltung, muß offen diskutiert werden, ob man bei der nächsten Bürgerschaftswahl im Jahr 2012 auch politisch darauf reagiert, indem etwa eine Wählergemeinschaft oder Partei ins Leben gerufen wird. Alternativ kommt auch in Betracht, sich in den bestehenden Parteien zu engagieren. 

Wovon hängt diese Entscheidung ab?

Scheuerl: Da spielen mehrere Fragen eine Rolle, die zu beantworten sind: Sind die Bürger, die sich bei WWL zusammengefunden haben, denn auch in Fragen jenseits der Schulpolitik soweit eines Sinnes, um eine Partei zu gründen? Oder erweist sich unser Bündnis in allen anderen Fragen außer der Schulpolitik als so heterogen, daß wir nur eine Wählergemeinschaft bilden können, die lediglich das Ziel hat, den im Volksentscheid kundgetanen Willen des Volkes politisch umzusetzen? Ist jeder einzelne bereit, die Arbeit auf sich zu nehmen, die mit einem solchen Engagement verbunden wäre?

Sie haben ankündigt, keine führende Rolle in der neuen Formation spielen zu wollen. Warum nicht? Enttäuschen Sie damit nicht Ihre zahlreichen Anhänger?

Scheuerl: Für mich war schon immer klar, daß ich nicht hauptamtlich in die Politik gehen und kein Berufspolitiker werden möchte. Aber natürlich wäre ich bereit, ein solches Engagement tatkräftig zu unterstützten.

Eine Wählergemeinschaft würde nur das Problem der Durchsetzung der Schulpolitik im Sinne des Volksentscheides lösen, nicht das Problem, das dahintersteckt: nämlich, daß die Parteien allgemein immer seltener tun, was die Wähler wollen, beziehungsweise was sie diesen versprochen haben. Nur wenn Sie sich für die Parteilösung entscheiden, könnten Sie den Etablierten auf allen Politikfeldern Druck machen.

Scheuerl: Nun, „jein“: Denn auch eine Wählergemeinschaft hätte ja nicht weniger oder nicht minderkompetente Abgeordnete in der Bürgerschaft. Im Gegenteil, es wären ja in jedem Fall Abgeordnete, die ganz bestimmt auch in der Lage wären, zu anderen Themen als nur zur Schulpolitik kompetent Stellung zu nehmen.

Wenn das Problem ist, daß die Politik die bürgerliche Mitte nicht mehr repräsentiert, dann reicht doch eine monothematische Wählergemeinschaft gar nicht aus!

Scheuerl: Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich glaube, daß allein diese Präsenz der Bürger in der Bürgerschaft, selbst wenn es nur für ein oder zwei Legislaturperioden wäre, einiges bewirken könnte.

Unterschätzen Sie da nicht die etablierte Politik? Die macht gute Miene zum bösen Spiel und sitzt Sie letztlich einfach aus.

Scheuerl: Uns ist natürlich bewußt, wie Berufspolitik funktioniert. Wir waren als WWL bei unseren Verhandlungen mit den Vertretern von Schwarz-Grün ja immer wieder damit konfrontiert, wie dort machtpolitisch argumentiert wird. Motto: „Was muß ich hergeben, um meine Macht zu bewahren?“ Letztlich besteht hier immer die latente Gefahr, daß die Sachentscheidung in den Hintergrund tritt, solange nur das Machtkalkül auf Parteiebene oder auf persönlicher Ebene aufgeht.

Mit wieviel Prozent rechnen Sie?

Scheuerl: Wenn – und ich betone: wenn – WWL antreten sollte, gehe ich auf jeden Fall von mehr als fünf Prozent aus, und zwar egal, ob als Wählergemeinschaft oder als Partei.

Auch in anderen Bundesländern haben sich Bürgerinitiativen in Sachen Schulpolitik gegründet, die mit Ihnen mittlerweile in Kontakt stehen. Gibt es dort ebenfalls Überlegungen, Parteien zu gründen?

Scheuerl: Da ist mir nichts bekannt.

Wäre vorstellbar, bei Erfolg Ihre Formation über Hamburg hinaus auszudehnen?

Scheuerl: Auch davon ist mir nichts bekannt. Sie müssen verstehen, WWL ist aus einer akuten Bedrohung für das Schul- und Bildungswesen entstanden, die sich hier in Hamburg ab 2008 durch die Politik des schwarz-grünen Senates ergeben hat. Wir sind eine Initiative mit lokalem Bezug und konkretem Ziel.

Sie haben die Ausrichtung der künftigen Formation bereits als „sozialliberal“ bezeichnet, gleichzeitig aber davon gesprochen, daß wohl vor allem enttäuschte FDP- und CDU-Wähler zu Ihnen finden würden. Warum nennen Sie so eine Partei ausgerechnet „sozialliberal“?

Scheuerl: Sozial ist ja nicht nur ein Etikett der SPD, sondern auch etwa der CSU. Wir identifizieren uns mit dem Begriff sozial, weil es WWL vor allem auch darum geht, den Schwächeren, die von zu Hause nicht die entsprechende Förderung bekommen, mit einem guten Schulsystem zu helfen. Aber nicht mit Primarschulen, in denen wir diese Kinder in ihren Stadtteilen festhalten, sondern durch frühzeitige Förderung und etwa auch durch attraktive Ganztagesschulen. Und als liberal sehen wir uns, weil wir andererseits auch für das freiheitliche Prinzip eintreten, daß jeder, auch der Leistungsstarke, sich nach seinen Fähigkeiten entwickeln können muß und nicht darin gehemmt werden soll. 

Eine funktionalistische Erklärung ...

Scheuerl: Wenn Sie so wollen.

Politisch nennt man eine Formation, die vor allem FDP- und CDU-Wähler anspricht „liberalkonservativ“. Haben Sie Angst vor dem Begriff „konservativ“?

Scheuerl: Nein, aber dieses Etikett paßt einfach nicht. Wenn ich von mehr Zuspruch von seiten ehemaliger CDU- statt etwa von seiten ehemaliger SPD-Wähler spreche, dann nicht deshalb, weil WWL etwa rechts der Mitte stünde, sondern weil die Union in den letzten zwei Jahren besonders enttäuschend für viele Wähler war. Denn sie hatte im Wahlkampf 2008 noch eine völlig andere Politik versprochen, als sie nach der Wahl gemacht hat: Die CDU hat ihre Wähler vor den Kopf gestoßen! Die SPD hat solch falsche Versprechungen nicht gemacht, dennoch aber waren laut Umfragen auch über die Hälfte der SPD-Wähler gegen die Primarschule. So würde eine Wählergemeinschaft beziehungsweise Partei mit dem bildungspolitischen Ansatz der Volksinitiative sicher auch von dort Stimmen bekommen können, aber wohl in geringerem Maße, weil dort nicht zur inhaltlichen Unzufriedenheit auch noch die Enttäuschung über falsche Wahlversprechen kommt.

Hinter der Primarschule steckt die linke Idee, Ziel von Bildungspolitik sei Gleichheit. Dem steht der konservative Entwurf gegenüber, wonach das Ziel Leistung und Effizienz ist. Diesen konservativen Entwurf vertritt doch WWL?

Scheuerl: Wenn Sie konservativ im Sinne von wertebewahrend verwenden, dann kann ich damit leben. Aber neben dem Leistungsgedanken darf die besondere Förderung der Schüler, die zu Hause nicht so gefördert werden, auf keinen Fall zu kurz kommen. Außerdem haben wir uns ja auch für starke Stadtteilschulen in einem für Hamburg ganz neuen Zwei-Säulen-Modell eingesetzt, mit dem Sachsen etwa Pisa-Sieger geworden ist. Ich würde uns deshalb nicht als „konservativ“ bezeichnen, weil wir ja nicht das alte Schulsystem bewahren wollen.

Als Bürgermeister Ole von Beust 2008 nach der Wahl plötzlich auf die grüne Schulpolitik einschwenkte, haben Sie zunächst angenommen, daß in der CDU eine Revolte  ausbrechen würde. Erst als Sie überrascht feststellen mußten, daß diese ausblieb, haben Sie WWL gegründet.

Scheuerl: Na ja, die Basis der CDU hat ja auch heftig opponiert, aber „dank“ des Delegierten-Systems in den Parteien dringt so etwas nicht als Druck von unten nach oben durch. Denn wer oben ein Amt innehat, der kann sich darauf – zumindest bis zur nächsten Wahl – relativ entspannt ausruhen.

Warum hat die CDU in dieser Frage überhaupt so sang- und klanglos ihre Überzeugung preisgegeben?

Scheuerl: Zum einen, weil man glaubte, damit ohne große Probleme durchzukommen: Man konnte sich nicht vorstellen, daß das Thema Schule solchen Aufruhr verursachen könnte. Zum anderen hat Ole von Beust das sofort zu einer Frage seiner politischen Fortexistenz erklärt und damit jeder internen Kritik entgegengewirkt. Und zuletzt wollte man eben die Koalition mit der GAL – und zwar weil es die Koalition mit dem angenehm kleinen Partner ist. Denn kleiner Partner heißt: Mehr Ämter und Posten für den großen Partner!

Dieses Problem scheint die „Merkel-CDU“ insgesamt zu haben: Profillosigkeit wird ihr oft genug als Markenzeichen attestiert.

Scheuerl: Der CDU fehlt nach meiner Sicht noch immer in weiten Teilen eine wirklich gelebte basisdemokratische Diskussionskultur. Wir sind gespannt, ob sich daran jetzt in Hamburg etwas ändert. Anlaß genug bietet der Ausgang des Volksentscheids sicherlich.

Das heißt, als demokratische Partei ist die CDU im Verfall?

Scheuerl: Nein, so drastisch würde ich das nicht sehen. Es handelt sich ja ohnehin auch nur um eine Momentaufnahme. Und Sie müssen bedenken, daß es bei anderen Parteien nicht überall besser aussieht. Denken Sie etwa an die GAL, die inzwischen mit großer Mehrheit dafür gestimmt hat, in Hamburg unter Christoph Ahlhaus weiterzuregieren, obwohl die Basis große Vorbehalte hat und auch sachlich nicht viel an Überschneidung da ist. Aber auch die GAL hat eben eine Vorstandsspitze, die gerne regiert und die ihre Ämter und Privilegien genießt.

Seit Wochen spekulieren die Medien heftig über die Gründung einer bürgerlichen Partei rechts der Union.

Scheuerl: Wenn Sie darauf hinauswollen, ob das die WWL sein könnte, dann kann ich das klar verneinen.

 

Dr. Walter Scheuerl, erlangte im Sommer bundesweite Bekanntheit als Initiator und Kopf des erfolgreichen Volksentscheids gegen die schwarz-grüne Bildungspolitik in Hamburg. Der Rechtsanwalt gründete 2008 aus Protest gegen die Bürgerferne der Hamburger Politik die Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“ (WWL), die die siegreiche Volksabstimmung vom 18. Juli initiierte (JF berichtete mehrfach). Inzwischen erweist sich, daß die Koalition aus CDU und Grün-Alternativer Liste (GAL) versucht, die vollständige Umsetzung des Entscheids zu unterlaufen. Als Konsequenz denken Scheuerl und „Wir wollen lernen“ (Logo rechts) inzwischen über die Gründung einer „Partei der bürgerlichen Mitte“ – ein Name steht noch nicht fest – nach. Die Entscheidung, ob man zur Hamburg-Wahl 2012 antreten wird, soll im Frühjahr fallen. Kontakt: „Wir wollen lernen“, Bohlens Allee 31, 22043 Hamburg, Telefon: 040 / 35 92 22 70 www.wir-wollen-lernen.de

Foto: Verärgerter Bürger in Hamburg (2010): „ ... weil die Union besonders enttäuschend für viele Wähler war. Denn sie hatte im Wahlkampf eine völlig andere Politik versprochen, als sie nachher gemacht hat.“

 

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