© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/10 05. November 2010

Abgekanzelte Kanzlerin
EU-Gipfel: Totalverlust der deutschen Euro-Stabilitätskultur / Keine echte Verschärfung des Defizitverfahrens
Bernd-Thomas Ramb

Am Ende weniger als nichts. Nur so kann das Resümee der Euro-Rettungsdiskussion des EU-Gipfels von vergangener Woche lauten. Die Nachgiebigkeit der Bundeskanzlerin gegenüber dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, Tage zuvor bei zweisamen Gesprächen im französischen Badeort Deauville vereinbart, hat sich nicht ausgezahlt (JF 44/10). Was Angela Merkel als Gegenleistung für ihren Verzicht auf eine automatische Bestrafung haushaltssündiger Euro-Länder einhandelte – die Eröffnung der Option, diesen Ländern das Stimmrecht im EU-Ministerrat zu entziehen –, verschob der EU-Gipfel als überprüfungsbedürftige Maßnahmenmöglichkeit auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.

Ende September noch forderte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) eine Verschärfung des Euro-Stabilitätspaktes mit einer automatischen Bestrafung anhaltender Defizitsünder. Wer seinen Staatshaushalt mit neuen Schulden finanziert, die über dem Maastricht-Grenzwert von drei Prozent der Höhe des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegen, sollte nicht mehr den „blauen Brief“ aus Brüssel gelassen abwarten können, in dem die Aufnahme des Defizit-Verfahrens angedroht wird: Dabei wird dem Sünderland zunächst die Möglichkeit eingeräumt, sein unerlaubtes Haushaltsdefizit in einigen Jahren freiwillig abzubauen. Ist dies nicht der Fall, muß dieses Land eine unverzinsliche Geldeinlage leisten, die bei anhaltender Defizitüberschreitung in eine Bußzahlung umgewandelt, ansonsten zurückgezahlt wird.

Die Trägheit dieses Verfahrens sollte in eine Zack-Zack-Methode umgewandelt werden: Zu hohes Defizit, sofort ein Bußgeldbescheid. Nach den Haushaltszahlen von 2009 wären damit sofort zehn der 16 Euro-Länder betroffen – auch Deutschland. Angesichts der real existierenden Haushaltsverfehlungen ist die Annahme geradezu absurd, eine Mehrheit der betroffenen Länder würde dieser Verschärfung zustimmen. Zumal 2004 der Euro-Stabilitätspakt gerade bezüglich der Sanktionsfristen entschärft wurde – nicht zuletzt weil damals ebenfalls zahlreiche Euro-Länder unzulässige Haushaltsdefizite aufwiesen und längere Fristen zu deren Beseitigung forderten.

Folgerichtig wurde jetzt der deutsche Wunsch nach einem scharfen Automatismus durch eine bloß augenscheinliche Verschärfung des Defizitverfahrens besänftigt. Es soll schneller reagiert und höher bestraft werden – können. Bei einem fieberkranken Kind wird schneller das Thermometer zu Rate gezogen und eine höhere Medikamentendosis bereitgestellt. Ob sie verabreicht wird, bleibt ebenso offen wie der Nachweis, ob sie überhaupt hilft. Insofern ist die Ablehnung des deutschen „Automatik“-Wunsches durchaus gerechtfertigt. Damit wird bestenfalls an den Symptomen herumgedoktert. Die eigentliche Ursache, die fehlende Sanierung der Staatsfinanzen, bleibt allenfalls indirekt berührt.

Euro-Transfergemeinschaft à la Länderfinanzausgleich

Gleiches gilt für Merkels Wunsch nach einer EU-Stimmrechtsaussetzung. Notorischen Haushaltssündern ist sowohl die Strafzahlung als auch die Stimmrechtsverweigerung letztlich egal. Hauptsache, sie können neue Schulden machen. Um dies zu verhindern, müßte die EU direkte Eingriffsmöglichkeiten in die Haushaltsplanung der souveränen Mitgliedsstaaten erhalten.

Das aber dürfte auf essentiellen Widerstand stoßen. Die Vorstellung der deutschen Regierung, eine solche oder gleichgewichtige Einflußnahme könne über eine Änderung des gerade mühsam beschlossenen Lissabon-Vertrags erreicht werden, ist irrwitzig. Die einzige Änderung, die einheitlich zustimmungsfähig erscheint, ist eine Preisgabe des bisherigen Verbotes, bankrottreifen Euro-Ländern finanziell beizustehen.

Das aber ist des Pudels Kern. Die „alternativlose“ Euro-Rettungsaktion anläßlich der drohenden Griechenland-Pleite im Mai dieses Jahres (JF 26/10) war ein verfassungsrechtlicher Ritt auf der Rasierklinge, deren Schnittverletzungen noch nicht überprüft sind. Zwei Verfassungsbeschwerden liegen in Karlsruhe vor (JF 29/10).

Merkel weiß, bei einer Wiederholung dieser als „einmalig“ erklärten Rettungsschirm-Aktion wird aus der Rasierklinge ein Fallbeil. Der Geist von Karlsruhe schwebt durch die Brüsseler Räume, was allerdings den anderen Euro-Ländern kaum Furcht einflößt. Die Bundeskanzlerin ist jedoch zwischen die Mühlsteine geraten. Soll der Euro gerettet werden, müssen die Euro-Gefährdungs-Staaten zur Entschuldung gezwungen oder Euro-Land in eine Transfergemeinschaft – ähnlich wie der deutsche Länderfinanzausgleich – umgewandelt werden.

Der Euro-Stabilitätspakt war schon bei seiner Einführung eine von den anderen Ländern mehr oder weniger stillschweigend ertragene Konzession an die deutsche Empfindlichkeit bezüglich der Stabilität ihrer Währung. Schließlich wurde die beliebte D-Mark geopfert. Der zweite Duldungsgrund war der Respekt vor dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, seinerzeit erwirkt vom Vorsitzenden des Bundes Freier Bürger (BFB), Manfred Brunner. Beides rollt die aktuelle Euro-Stabilitätsdiskussion wieder auf. Die gestaffelten Verteidigungslinien deutscher Stabilitätskultur hat die Bundeskanzlerin nicht halten können. Sie sind wie Pappsoldaten umgekippt. Taktisches Zurückweichen hat sich in heillose Flucht und bedingungslose Kapitulation gewandelt.

Der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) kommentierte das deutsche Fiasko bei der Euro-Diskussion: „Merkel hat nicht einmal die Taube auf dem Dach.“ Es ist schlimmer: Der Spatz in der Hand entpuppt sich als leeres Vogelei, und im Nacken hat sich der Adler namens Bundesverfassungsgericht festgekrallt.

 

Euro-Stabilitätspakt

Im Vertrag über die Europäische Union (EUV/Maastricht-Vertrag) wurden 1992 die Stabilitätskriterien für die Europäische Währungsunion festgelegt. Im „Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“ werden die Referenzwerte genannt: drei Prozent für das Verhältnis zwischen dem geplanten oder tatsächlichen öffentlichen Defizit und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (BIP) und 60 Prozent für das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Schuldenstand und dem BIP. In Artikel 104 c des EUV heißt es: „Die Mitgliedstaaten vermeiden übermäßige öffentliche Defizite. Die Kommission überwacht die Entwicklung der Haushaltslage und der Höhe des öffentlichen Schuldenstands in den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Feststellung schwerwiegender Fehler.“ Italien und Belgien erfüllten schon bei der Euro-Einführung das Schuldenkriterium nicht, Griechenland legte falsche Zahlen vor. Inzwischen verstoßen 10 von 16 Euro-Ländern gegen den Euro-Stabilitätspakt.

Die EU-Verträge im Internet: http://eur-lex.europa.eu/de/treaties/

Foto: EU-Gipfel mit Präsident Sarkozy und Bundeskanzlerin Merkel: Der Geist von Karlsruhe schwebte durch die Brüsseler Räume

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