© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/10 05. November 2010

Die letzte Schlacht
Stuttgart 21: Ein Bahnhof als Nagelprobe für die Demokratie? Wie wir durch den Griff in die Klischee-Kiste in die Irre geführt werden
Moritz Schwarz

Von nichts weniger als von einem „Ausrufezeichen der Zivilgesellschaft“ spricht der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer. Die Republik werde sich verändern und „die Bürgergesellschaft einen ganz neuen Stellenwert“ erlangen, dröhnt Baden-Württembergs Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann. Daß gar die Welt hinterher anders aussehen werde, verkündet der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler.

Was ist geschehen? Erste Schritte auf dem Mond? Schüsse in Sarajevo? Hat Frankreich bei Valmy gesiegt, was Goethe zu der berühmten Sentenz veranlaßte: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus“?

Nein – in Stuttgart wird ein Bahnhof gebaut. Sie kennen den Fall, sonst würden Sie an dieser Stelle glauben, nicht richtig gelesen zu haben. Stuttgart hat rund 600.000 Einwohner und ist ein wichtiger Wirtschaftsstandort. Aber Hand aufs Herz, interessiert Sie wirklich, ob die Schwaben (außer Sie sind einer) einen neuen Bahnhof bauen oder nicht? Eben. Trotzdem haben Sie den Fall aufmerksam verfolgt, lesen diesen Beitrag, tobt seit Wochen Stuttgart 21 durch die Medien. Wie nur konnte eine Lokalposse das ganze Land narren?

Ganz einfach, wir sind Zeugen einer hohen Kunst geworden. Der Kunst, den Schwanz mit dem Hund wackeln zu lassen, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. In Zeiten der Demokratie, wo Wählerstimmen und Umfragewerte die Währung der Macht sind, ist mediale Omnipräsenz alles: Wer sie besitzt, kann uns überwältigen und uns glauben machen, hier entscheide sich unser Schicksal. Im Märchen ruft das Kind: „Aber der Kaiser ist nackt!“ – und der Bann ist gebrochen. Doch in der Realität dringen jene, die rufen: „Aber es ist nur ein Bahnhof!“ nicht durch.

Nichts ist im Fall Stuttgart 21, wie es zu sein scheint. Daraus eben besteht das Schauspiel. Ein Drama in drei Akten: Drei Klischees, ohne die sich keiner für die Geschichte interessieren würde:

1. Akt: „Der Auftritt des Volkes“ oder „Schwaben sind brave Bürger, die nicht demonstrieren“

Das war der Einstieg, um das Thema überregional interessant zu machen: Ja, wenn selbst die Schwaben auf die Straße gehen ...! Um dann die „Dagegen-Republik“ auszurufen – noch so ein Kampagnen-Trick. Aber ist Aufruhr in Schwaben tatsächlich ein Menetekel? Faktencheck: Kaum ging es in Deutschland los mit der „Zivilgesellschaft“, waren die Schwaben vorn dabei: Der sogenannte „deutsche“ Bauernkrieg findet in Wahrheit nur in Thüringen, Franken und – genau – im Südwesten statt. 1514 trotzen sie ihrem Landesherrn zudem als erster deutscher Stamm eine Verfassung ab, die zweite in ganz Europa nach Englands Magna Charta und lange vor Amerikanern und Franzosen. Dann wird das Land ein Hort des aufmüpfigen Liberalismus, 1848 ein Brennpunkt der Revolution. Der Freiheitsdichter der Deutschen schlechthin, Friedrich Schiller, war ebenso Schwabe, wie namhafte Hitler-Gegner: Stauffenberg, die Geschwister Scholl oder Bürgerbräu-Attentäter Georg Elser. Als dann nach dem Krieg das Stuttgarter Schloß plattgemacht werden soll, scheitert die Politik. Woran? An einem Bürgeraufstand. Und seitdem wird auch im Südwesten gegen jedes Großprojekt, ob Flughafenausbau oder neue Landesmesse, von Bürgerseite Front gemacht. 

Egal, ohne das Klischee verlöre die Nachricht ihren Reiz. Schon Goethe wußte, jede gute Geschichte braucht eine „unerhörte Begebenheit“ – also muß der Kampagnenmacher sie eben so erzählen, daß diese sich einstellt.

2. Akt: „Die bösen Buben“ oder „Die CDU ist konservativ“

Was wäre eine Stuttgart 21-Meldung  ohne den Hinweis, daß der Aufstand der Bürger sich „ausgerechnet“ gegen die „konservative“ CDU richte? Eben,  nicht prickelnd genug für überregionale Berichterstattung. Faktencheck: Tatsächlich avancierte Baden-Württemberg auch deshalb zum „Musterländle“, weil hier konsequent der Fortschritt regierte. Es wurde nicht bewahrt, sondern abgerissen und gebaut, was das Zeug hält: Autobahnen, Atomkraftwerke und Innenstädte: In Stuttgart plante die „konservative“ CDU nach 1945 nicht anders als die kommunistische SED in Ost-Berlin: Schloß abreißen für ein Stadtzentrum, „der Zukunft zugewandt“. Da die Bürger dies zu verhindern wußten, machte man den historischen Kronprinzbau gegenüber platt, für eine Betonbrache namens „Kleiner Schloßplatz“ und zerstörte damit ein bis dato erhaltenes – wenn auch ausgebombtes – Ensemble, über das Napoleon einst gesagt hatte, es sei „der schönste Platz Europas“.

Wie anderswo fielen auch in Stuttgart unzählige historische Bauten dem CDU-Regiment zum Opfer. Wirklich Konservative, die dagegen protestierten, qualifizierte etwa CDU-Oberbürgermeister Manfred Rommel als traurige Fälle einer „Krankheit namens Nostalgie“ ab. Daß vom „Kleinen Schloßplatz“ damals angeblich ebenso die „Zukunftsfähigkeit“ der Stadt abhing, wie heute von Stuttgart 21, ist klar. Tatsächlich entwickelte sich die Anlage, die übrigens dem oberirdischen Teil des Bahnhofsneubaus zum Verwechseln ähnlich sieht, aber zur menschenleeren Wüste, und wurde Jahre später als gescheitert abgerissen. Fazit: Die CDU war stets die Partei bedenkenlosen Fortschritts – übrigens inklusive Einwanderung, die auch als Folge dieser Haltung gesehen werden muß. Folgeschäden uninteressant.

Zudem: Der Bahnhofsbau des Architekten Paul Bonatz (1877–1956) ist eine seltenes Exemplar der Vormoderne beziehungsweise der konservativen Moderne. Dabei handelte es sich um eine Architekturschule, die modern zu bauen versuchte, aber sich nicht auf die vom Bauhaus inspirierte Neue Sachlichkeit einlassen wollte. Statt dessen war man bestrebt, dabei einen eigenen konservativen Ausdruck zu entwickeln und Traditionen zu wahren. Klar, daß diese Schule nach 1945 unter NS-Verdacht geriet und bis heute mit Verachtung gestraft wird. Eines der wenigen Zeugnisse einer eigenen konservativen Architektur- und Kulturgeschichte, eine der seltenen Trutzburgen gegen die Neue Sachlichkeit – deren Botschaft ist: Modern geht auch anders! – läßt die CDU da also schleifen. Um sie ausgerechnet durch eine 08/15-Konstruktion im Gefolge der Neuen Sachlichkeit zu ersetzen.

Und dennoch ist die Behauptung von der „konservativen“ CDU nicht totzukriegen – denn nur sie garantiert die Schlagzeilen vom Aufstand gegen die angeblich „eigene Partei“, die die Geschichte spannend macht.

Stuttgart 21 ist zur großen Mode geworden

3. Akt: „Die Ritter des Lichts“ oder „Der Widerstand gegen Stuttgart 21 ist die Verkörperung der Demokratie“

Kein Zweifel, es gibt viele rechtschaffene Stuttgart 21-Gegner, aber auch solche, wie selbst Grünen-Fraktionschef Kretschmann gesteht, die das Fällen von Bäumen im Schloßgarten mit der Zerstörung von Heiligenfiguren durch die Taliban in Afghanistan gleichsetzen – oder die Bürger mit anderer Meinung mit Steinen krankenhausreif schlagen.

Bezeichnend aber ist ein Streit unter den Stuttgart 21-Gegnern: Das linke „Aktionsbündnis“, Rückgrat des organisierten Widerstands, bezichtigt den Sprecher der „Parkschützer“, eine Gruppe die für die Bäume im Schloßgarten kämpft, der „unverfrorenen Hochstapelei“. Denn dieser wird von den Medien gerne als Vertreter der Stuttgart 21-Gegner präsentiert. Da die Parkschützer aber nur rund dreißig Mann stark seien, hätten diese dafür gar „kein Mandat“, schimpft der Sprecher des Aktionsbündnisses.

Nun sind laut jüngster Umfrage nur 43 Prozent der Badener und Württemberger gegen Stuttgart 21, jedoch 46 Prozent dafür. Dennoch demonstrieren jeden Montag die vom Aktionsbündnis versammelten Stuttgart 21-Gegner unter dem Motto: „Wir sind das Volk“. Fazit: Was im kleinen die Parkschützer zu „Hochstaplern“ macht – mangelnde Legitimation –, ficht das Aktionsbündnis im großen nicht an.

Der Faktencheck ergibt: Im Südwesten sind, je nach Umfrage, die Projekt-Gegner mal mit 43 Prozent in der Minderheit, mal mit 54 Prozent in der Mehrheit – aber nie sind sie „das Volk“.

Zweifellos ist der dritte Akt die größte Münchhausen-Geschichte und vielleicht deshalb die erfolgreichste. Alle drei zusammen aber haben aus der Provinzposse erst das angebliche politische Zeitenwende-Drama gemacht. Hochgeschrieben von unzähligen Sympathisanten in den Redaktionen überall im Land, ganz nach dem Motto: „Wie es euch gefällt.“

Kein Zweifel, die Umfrageverluste der CDU und die gigantischen demoskopischen Gewinne der Grünen im Land sind valide. Denn Stuttgart 21 ist zur großen Mode im Südwesten geworden. Es geht längst nicht mehr um Politik, um den Bahnhof gleich gar nicht, sondern für viele Bürger – egal auf welcher Seite sie stehen – unbewußt einfach darum, auch dabeizusein, beim derzeit größten Volkslaienspiel „Gut gegen Böse“ in deutschen Landen.

Ist das die zynische Herabwürdigung von Bürgerengagement? Gegenprobe: Was steht auf dem Spiel? Das Volk? Wie in Sachen Demographie und Einwanderung. Die Demokratie? Wie in Sachen Souveränitätstransfer nach Brüssel. Nein, die „letzte Schlacht um die Demokratie“ führen die Deutschen tatsächlich – um einen Bahnhof. Während hinter ihrem Rücken die Lunte brennt.

 

Stuttgart 21 contra Kopfbahnhof 21

Stuttgart 21, das ist nicht nur ein neuer Tiefbahnhof, sondern ein ganzes Bündel von Projekten: mehrerer Bahnhöfe, Gleisstrecken und Tunnel. Nicht alle Stuttgart 21-Gegner sind gegen sämtliche Neubaumaßnahmen. So sieht der populäre Gegenentwurf „Kopfbahnhof 21“ (www.kopfbahnhof-21.de) ebenfalls den Neubau der ICE-Achse Stuttgart–Ulm vor. Vollständig erhalten und modernisiert würde dagegen laut K 21 der alte Bahnhof, dessen Seitenflügel – die Haupthalle bleibt stehen – S 21 zum Opfer fallen sollen. Der Bau (errichtet 1914 bis 1928) gilt als architektonisch wertvoll und ist laut Denkmalschutz ein Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung. 

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