© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/10 05. November 2010

Wer teilt, gewinnt
Die Legende lebt: Sankt Martin zwischen Solidaritätsgeste und säkularem Laternenfest
Christian Schwiesselmann

Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne“, singt der kleine Marcel, während er in der einen Hand ein kleines Martinslicht hält. Der Kerzenschein erleuchtet sein Gesicht. Seine Mutter führt ihn an der anderen Hand direkt auf den Erfurter Domplatz. Viele junge Familien strömen am Vorabend des Martinstags dem Dom zu. Vor seiner beeindruckenden Silhouette und der benachbarten Severikirche treffen sie sich jährlich, um einer christlichen Legende zu gedenken. Unter ihnen sind viele Konfessionslose, die auch in der thüringischen Landeshauptstadt – wie im gesamten mitteldeutschen Raum – die Bevölkerungsmehrheit stellen. Während Reformationstag und Allerheiligen im Alltag kaum noch spürbar sind und von irisch-amerikanischen Halloween-Bräuchen seit den neunziger Jahren verdrängt werden, scheint die Legende vom heiligen Martin auf den ersten Blick höchst lebendig.

Bei der Suche nach den Ursachen zeigt sich das katholische Bistum Erfurt gegenüber der JF wenig auskunftsfreudig. Nur soviel läßt Pressesprecher Peter Weidemann durchblicken: das Martinsfest wird ökumenisch begangen und von einem Arbeitskreis vorbereitet. Auf die Erfurter Besonderheit geht er nicht ein: Das Martinsfest findet nicht am 11. – dem Todestag von Martin von Tours –, sondern am 10. November statt. Es erinnert damit auch an den Geburtstag Martin Luthers, der in Erfurt studierte und sich hier dem Augustiner-Orden anschloß.

Die Vermutung, daß hinter dem Weiterleben der Martinslegende eine gehörige Portion moderne Eventkultur und eine Messerspitze traditionsvergessener Vergnügungslust stecken, teilt Pastor Reinhard Holmer, Direktor des Evangelischen Allianzhauses in Bad Blankenburg. Dennoch offenbare sich darin die Sehnsucht nach gelebter Solidarität, die ja im Zentrum der Martinslegende stehe. Martin, der im Jahre 331 nach Christus römischer Soldat wurde, zerteilte seinen Mantel für einen unbekleideten Bettler schließlich, bevor er sich taufen ließ und zum Kreuz bekannte. Die Tat stand vor dem christlichen Bekenntnis.

Barmherzigkeit schätzen auch nicht- christliche Eltern. Gerade in den neuen Bundesländern. „Ich beobachte, daß viele ohne Glaubensbezug am Martinsfest teilnehmen“, sagt Holmer. Das Bedürfnis zu geben, ohne zu nehmen, schildert er plastisch anhand von Hilfs- und Spendenaktionen für die weißrussischen Opfer des Reaktorunglücks in Tschernobyl, die in Gemeinden der Evangelischen Allianz der Region Blankenburg-Rudolstadt laufen.

Den christlichen Ursprung in den Mittelpunkt rücken

Dennoch gibt es deutliche Anzeichen für eine Säkularisierung des Martinsfestes. Nicht nur im Osten Deutschlands. Das katholische Bonifatiuswerk in Paderborn räumt ein, daß das Fest des heiligen Martin in Familien, Schulen und Kindergärten zwar eine lebendige Tradition habe – allerdings heute eher als „Laternenfest“ zu Beginn der dunklen Jahreszeit. Es hat deshalb im Oktober das Werkbuch „Sankt Martin ist ein guter Mann“ herausgegeben, das „den christlichen Ursprung von Sankt Martin wieder in den Mittelpunkt rücken“ möchte. Geschichten, Stilleübungen, Gebete, aber auch Spiele, Lieder, Bastel- und Backvorschläge sollen dabei helfen.

Für den Kölner Theologen Manfred Becker-Huberti läuft das heutige Martinsbrauchtum Gefahr, „mit der Zeit als bloße Folklore zu verrotten“. Davon unbeschadet schimmere durch Martinshörnchen und -gänse stets die alte christliche Botschaft: Wer teilt, gewinnt.

 www.martin-von-tours.de

Foto: Martinsfest in Erfurt: Bunte Laternen und junge Familien treffen alljährlich auf dem Domplatz zusammen

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