© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/10 12. November 2010

„Viel härter als wir bisher dachten“
Der Krieg in der Normandie galt lange als sauberer Sturmlauf der Alliierten im Kampf für die Demokratie. Nun enthüllt Antony Beevor die dunkle Seite dieses Kapitels.
Moritz Schwarz

Herr Professor Beevor, in Deutschland steht der Volkstrauertag bevor. Sollte man der gefallenen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs gedenken?

Beevor: Ja, zwar muß man akzeptieren, daß sie für ein kriminelles Regime kämpften, gar kein Zweifel, aber das heißt natürlich nicht, daß sie alle Kriminelle waren. In meinem Buch zeige ich, daß viele deutsche Soldaten gegen ihren Willen kämpften und einfach diesen schrecklichen Krieg beenden wollten.

Sie haben jüngst aufgedeckt, daß während der Schlacht um die Normandie auch deutsche Soldaten Opfer von Kriegsverbrechen geworden sind, verübt durch Briten, Kanadier und Amerikaner.

Beevor: Diese Fakten sind nicht unbedingt neu, aber es stimmt, sie standen bisher nicht im Fokus.

Was bedeutet?

Beevor: Der D-Day, die Schlacht in der Normandie und die Befreiung Frankreichs werden vor allem in den USA bis heute mythologisiert: Es ist die große Leistung der „greatest generation“, wie die Amerikaner die Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkriegs nennen, und da paßt der Umstand, daß es auch Grausamkeiten und Härten von seiten der Alliierten gegeben hat, nicht ins Bild.

Der „Spiegel“ spricht davon, daß Ihr neues Buch aufarbeite, was „von anderen Historikern ignoriert wurde“ und daß der „Umfang alliierter Kriegsverbrechen größer ist als bislang bekannt“.

Beevor: Vielleicht hat sich zuvor einfach noch keiner richtig die Mühe gemacht, die Berichte zusammenzutragen. Allerdings wurden in allen Kriegen auf allen Seiten Kriegsgefangene getötet.

Wie viele Soldaten wurden während der Schlacht um die Normandie Opfer von Kriegsverbrechen?

Beevor: Es gibt darüber natürlich keine Statistik, aber ich denke, auf keiner Seite überschritt die Zahl dieser Verbrechen etwa eintausend Fälle.

Welcher Art waren die alliierten Kriegsverbrechen in der Normandie?

Beevor: Zunächst gab es die Ermordung von Gefangenen durch US-Fallschirmjäger auf der Halbinsel Cotentin. Aus vielen Berichten geht klar hervor, daß einige ihrer Kommandeure klar angedeutet hatten, keine Kriegsgefangenen zu nehmen, weil das die Fallschirmjäger behindern würde. Außerdem wurde ihnen während der Ausbildung ein aggressiver Kämpfer-Instinkt eingeimpft. Deshalb riefen sie bei ihrer Landung: „Los, laßt uns Krauts killen!“ Und als sie Gerüchte vernahmen – vielleicht wahre, vielleicht falsche –, daß Kameraden, die sich beim Landen in Bäumen verfangen hatten, von Deutschen mit Bajonetten oder Flammenwerfern getötet worden waren, wuchs ihr Wunsch nach Rache. Ein US-Fallschirmjäger trug, wie ein Kamerad beobachtete, Handschuhe rot von Blut, weil er den Deutschen, die er getötet hatte, die Ohren abschnitt. Die erbitterten Kämpfe und schweren Verluste der Amerikaner am D-Day am Strandabschnitt „Omaha“ verursachten, daß in Einzelfällen Gefangene erschossen wurden. Ob deutsche Gefangene auch nach der Aushebung eines Widerstandsnestes erschossen wurden, wie ein deutscher Soldat behauptet hat, kann weder bewiesen noch widerlegt werden. An der Front der zweiten Britischen Armee, nahmen Kanadier Rache an Gefangenen der SS-Division „Hitlerjugend“, nachdem 187 ihrer Leute, inklusive Verwundeter, ermordet worden waren. Ein kanadischer Major wurde offensichtlich enthauptet. Nach diesen Ereignissen erschossen die Kanadier und in vielen Fällen britische Soldaten SS-Kriegsgefangene, obwohl sich die SS nur selten ergab. Meistens kämpften diese Soldaten bis zum Ende, weil sie von ihren Offizieren gewarnt worden waren, wenn sie sich ergeben, ohne schwer verwundet zu sein, würden sie als Deserteure betrachtet. 

„Beevors Werk räumt auf mit der Legende vom zivilisierten Krieg im Westen. Das Bild vom heldenhaften Kampf der Alliierten ... die in Westerntradition heroisch und lässig einen gerechten Job erledigten …. bürstet er kräftig gegen den Strich“, lobte das Erste Deutsche Fernsehen Ihr Buch.

Beevor: Nun, die Kämpfe um die Normandie waren insgesamt viel härter und erbarmunsloser als wir bisher dachten. So verloren die Deutschen etwa an der Ostfront im Schnitt pro Division im Monat rund 1.000 Mann, in der Normandie waren es dagegen 2.300! Das zeigt das wahre Ausmaß, denn die deutsche Propaganda versuchte, die Normandie stets als eher leichte Schlacht darzustellen.

Die Landschaft war von dichten Hecken bewachsen, was die Schlacht zu einer Art „Dschungelkrieg“ machte.

Beevor: Richtig, die Deutschen beschrieben es als einen „schmutzigen Buschkrieg“. Aber das war nur ein Grund für die hohen Verluste. Zudem waren die Alliierten regelrecht geschockt über die Entschlossenheit und die Effektivität der deutschen Einheiten, auf die sie trafen. Und das, obwohl die Alliierten mit gewaltiger Übermacht antraten, während die Zahl der Deutschen klein und ihre Reserven an Munition, Verpflegung und Unterstützung zudem sehr begrenzt waren: Über Artillerie und Luftwaffe etwa verfügten sie fast gar nicht mehr. Eine große Überraschung war auch, daß – wie US-Militärpsychiater feststellten – die Zahl der deutschen Soldaten mit Kriegspsychosen offenbar vergleichsweise klein war, während etwa die US-Truppen über 30.000 solcher Fälle allein in der Normandie zu verzeichnen hatten. Und das, obgleich die Deutschen unter viel größeren Belastungen standen, denn die Bombardements, die sie von alliierter Seite ertragen mußten, waren gewaltig, während die alliierten Soldaten von deutscher Seite nichts Vergleichbares erfuhren, da diese nicht über eine solche Feuerkraft verfügten.

Wie ist das zu erklären?

Beevor: Sicher ist ein Grund, daß auf deutscher Seite Kriegspsychosen nicht anerkannt wurden und entsprechende Fälle im Zweifel vor dem Standgericht landeten. Aber man kann doch nicht umhin festzustellen, daß es offenbar in der Wehrmacht eine sehr viel strengere Disziplin gegeben haben muß und daß die deutschen Soldaten offenbar viel besser für die Ausnahmesituationen, die ein Krieg mit sich bringt, vorbereitet waren, als die vor allem aus Zivilisten rekrutierten Armeen der Alliierten. Dazu kommt, daß die deutschen Truppen 1944 absolute Profis waren, viele kamen von der Ostfront und sie kämpften mehrheitlich in der Überzeugung, die Alliierten müßten um jeden Preis gestoppt werden, weil sonst das Reich zerstört werden würde. Sie kämpften also mit dem Mut der Verzweiflung. Die Amerikaner dagegen kämpften keineswegs für die Verteidigung ihrer Heimat, sondern um den Krieg in Europa zu beenden. Und unter den britischen Soldaten machte sich längst eine gewisse Kriegsmüdigkeit breit: Jetzt noch für König und Vaterland sterben? Jetzt, wo es sowieso zu Ende ging? Die Deutschen dagegen standen mit dem Rücken zur Wand.

In einem Interview haben Sie gesagt: „Trotz Einweisung durch Offiziere wußten viele GIs nicht wirklich, worum es geht. Für sie war Frankreich kein besetztes Land, sondern Feindgebiet. Und so haben sie sich auch gegenüber Zivilisten verhalten.“

Beevor: Sie wußten natürlich, daß sie in einem besetzten Land waren, aber instinktiv setzten sie besetztes Land mit feindlichem Land gleich. Die meisten von ihnen waren noch nie zuvor im Ausland gewesen, für sie waren die Franzosen einfach Leute, deren Sprache sie nicht verstanden, gleichgültig ob sie nun Französisch oder Deutsch sprachen.

Das befreite Paris schildert Ihr Buch so: Viele Franzosen waren „erschüttert, als das Kunstmuseum von US-Truppen übernommen wurde und ein riesiges Schild verkündete, GIs könnten hier gratis Kondome erhalten ... Im Viertel Pigalle, das bei den Amerikanern bald nur noch ‘Pig Alley’ – ‘Schweineallee’ – hieß, bedienten Prostituierte pro Tag über 10.000 GIs ... und an der Place Vendome lagen diese betrunken auf den Gehsteigen.“

Beevor: Stimmt, und der Kontrast zum Verhalten der deutschen Besatzungstruppen in ihrer Freizeit, denen es sogar verboten war auf der Straße zu rauchen, konnte größer nicht sein. Das Problem war, daß viele GIs – die Taschen voller Dollars – glaubten, die Schrecken der Front gäben ihnen das Recht, im Hinterland zu tun und zu lassen, was sie wollten. 

Sie haben außerdem als erster zusammengetragen, daß die französische Zivilbevölkerung Verluste in bisher nicht bekanntem Ausmaß zu erleiden hatte – und zwar durch das Feuer der Alliierten.

Beevor: Diese Erkenntnis hat mich wirklich schockiert: Insgesamt wurden über 35.000 französische Zivilisten während der Befreiung der Normandie getötet und schätzungsweise über 100.000 schwer verwundet. Niederschmetternd ist vor allem die Tatsache, daß während des ganzen Krieges beinahe 70.000 französische Zivilisten von alliierten Bomben und Granaten getötet wurden, und damit etwas mehr als die Gesamtzahl der britischen Zivilisten, die der deutschen Luftwaffe zum Opfer fielen. 

Das alliierte Bombardement der französischen Stadt Caen haben Sie als „nahe an einem Kriegsverbrechen“ bezeichnet.

Beevor: Und dafür viel Kritik erfahren. Vielleicht hätte ich nicht „Kriegsverbrechen“ sagen sollen. Tatsächlich habe ich es auch nicht explizit als Kriegsverbrechen bezeichnet, sondern gesagt: „nahe an“, was schon ein Unterschied ist. Jedenfalls war Caen eine der größten Tragödien während der Schlacht, in der knapp 2.000 Einwohner völlig sinnlos im britischen Bombenhagel starben.

Wie können Sie sicher sein, daß die hohe zivile Opferzahl auf alliiertes Feuer und nicht auf das der Deutschen zurückgeht?

Beevor: Sicher gab es das auch, aber den Deutschen stand ja kaum mehr Luftwaffe und Artillerie zur Verfügung, während die Alliierten diesbezüglich eine haushohe Übermacht hatten. Zudem setzten sie die Feuerwalze massiv ein. Das hatte zwei Gründe: Erstens war es für ihre Kriegsführung wichtig, die Kommunikationsmittel zu zerstören, um deutsche Verstärkung zu behindern. Nicht anders war es beim Angriff auf Städte, über Caen sprachen wir schon. Zweitens achten in Demokratien – anders als in Diktaturen – Parlament, Presse und Öffentlichkeit meist sehr genau darauf, daß die eigenen Verluste möglichst gering gehalten werden. Folglich setzen die Planer viel mehr auf eine Feuerwalze, um möglichst viele Feinde schon getötet zu haben, bevor sie eigene Truppen losschicken. Aber genau das läßt Verluste unter der Zivilbevölkerung im Kampfgebiet in die Höhe schnellen. Die horriblen Zivilverluste sind also auch Produkt eines furchtbaren Paradoxons demokratischer Kriegsführung.

Also war der Krieg der Alliierten kein gerechter Krieg, wie bis heute dargestellt?

Beevor: Dieses Fazit ist mir zu holzschnittartig. Ich glaube, das Problem ist, daß wir dazu neigen, mit unseren Wertvorstellungen an die Dinge heranzugehen. Wir verstehen nicht, daß ein Soldat in einer Situation einen Gefangenen erschossen und in einer anderen mit einem Gefangenen eine Zigarette oder Konserve geteilt hat. Wir teilen auf in Gut und Böse, die Realität aber folgt nicht der Moral, sondern der menschlichen Psychologie, die viel komplexer ist. Heute leben wir in einem postmilitärischen Zeitalter, und deshalb haben wir meist kein Verständnis mehr für die Lage, in der sich die Menschen damals befanden. Und so beurteilen wir sie nach unseren Moralvorstellungen, statt zu begreifen, was vor sich ging.

In Deutschland ist der moralische Blick sehr dominant, vor allem seit 1968.

Beevor: Ich weiß, die Deutschen versuchen bevorzugt, alles in ein theoretisches Gitter zu pressen. Ich halte genau das für eine der Gefahren und Hauptfehler deutscher Geschichtsschreibung. Ein führender deutscher Historiker schrieb einmal über mich im Spiegel: „Beevor hat keine Leitidee.“ Ich glaube aber, daß genau das der Fehler ist: erst eine Leitidee zu haben und dann das Material danach zu sortieren. Dann kommen Historiker dabei heraus, die den Stoff danach selektieren, was zu ihrer These paßt. Es ist aber wichtig, daß Historiker keine Arroganz entwickeln und nicht versuchen, den Fakten ihren Standpunkt aufzuzwingen. Zu versuchen, moralische Parameter zu etablieren, statt die historische Situation zu begreifen, ist Ideologie und keine Geschichtswissenschaft. Das Verstehen ist die erste Aufgabe des Historikers, nicht das Verurteilen.

 

Prof. Dr. Antony Beevor, der britische Historiker und Bestsellerautor gilt als einer der großen seiner Zunft. Bereits 2005 sorgte er mit seinem Buch „Berlin 1945. Das Ende“ (C. Bertelsmann), das auch die Gewalttaten der Roten Armee in den Blickpunkt rückte, für Aufsehen. Nun beleuchtet der „akribische Rechercheur“ (Deutschlandradio) in seinem neuen Buch „D-Day. Die Schlacht um die Normandie“ (C. Bertelsmann) den Krieg im Westen als härter und grausamer als bisher bekannt. Neben den deutschen Kriegsverbrechen stellt Beevor auch lange Beschwiegenes wie die Ermordung deutscher Kriegsgefangener oder die enormen Verluste unter der französischen Zivilbevölkerung durch die alliierte Kriegsführung dar. Der ehemalige Offizier, Jahrgang 1946, und Absolvent der britischen Militärakademie Sandhurst hat ein „packendes“ (NZZ) und „brillantes“ Buch (The Daily Telegraph) vorgelegt. www.antonybeevor.com

Foto: Deutsche Kriegsgefangene am Strand der Normandie (6. Juni 1944): „Daß es Grausamkeiten und Härten auch von seiten der Alliierten gegeben hat, paßte bisher nicht ins Bild“

 

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