© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/10 12. November 2010

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Es bleibt noch abzuwarten, ob aus der Debatte über die Rolle des Auswärtigen Amtes in der NS-Zeit ein neuer Schub Vergangenheitsbewältigung folgt. Manches spricht für eine gewisse Ermüdung, die Reaktionen im Ausland sind erstaunlich verhalten, aber die interessierten Kreise wollen natürlich die Maschinerie in Gang halten. Grundsätzliche Einwände gibt es kaum. Das, was in den Pausen zwischen den Hochphasen der Bewältigung an Einsichten zustande kommt über „Holocaust-Industrie“, „Shoah Business“, die Abwehrreflexe der jungen Generation oder die Pathologie dauernden Schuldbewußtseins bringt niemand zur Geltung.

Die Klage des Bundesinnenministers über die einsichtfördernde Wahrnehmung von Integrationsfehlschlägen vor seiner Haustür kann verallgemeinert werden: Über Zuwanderung würde in diesem Land längst ganz anders geredet, wenn Politiker regelmäßig die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen müßten.

Die Kongreßwahlen haben einmal wieder gezeigt, daß es in Deutschland nur Demokraten gibt, will sagen: Parteigänger der demokratischen Partei in den USA. Republikaner erscheinen bei uns als fehlplazierte Schauspieler, Waffenfetischisten, Schwachköpfe oder übermotivierte „hockey mum“. Das gilt selbst im bürgerlichen Lager, das die Obamania willig mitgemacht hat. Man könnte über all das reden, und auch darüber, daß Linke global dieselben Ziele verfolgen und insofern leichter solidarisierbar sind, während Rechte von Land zu Land je spezifische Absichten verfolgen und um Sonderinteressen wissen, aber man sollte doch bedenken, daß die ausgesprochenen Feinde Deutschlands im Weißen Haus während des 20. Jahrhunderts samt und sonders Demokraten waren: Wilson, Roosevelt, Kennedy.

Soweit sich das rekonstruieren läßt, geht der Begriff Vergangenheitsbewältigung auf die fünfziger Jahre zurück, bevorzugtes Tagungsthema der einflußreichen Evangelischen Akademien. Eine gewisse theologische Färbung hat das Konzept bis heute, was aber für den Zusammenhang wichtiger ist: in der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es ernsthafte öffentliche Kontroversen über Sinn oder Unsinn, das heißt auch starke entgegenwirkende Tendenzen. Deren Motive müßte man im einzelnen und genauer untersuchen, aufschlußreich ist jedenfalls, daß sich im Ausland früh Vorbehalte gegenüber der Intensität geltend machten, mit der die Deutschen auf ihre immer weiter zurückliegende Vergangenheit fixiert waren. 1953 äußerte Nahum Goldmann, der damalige Präsident des Jüdischen Weltkongresses, bei der Einweihung des Denkmals in Bergen-Belsen, sieben Jahre nach Kriegsende müsse unter das KZ-Kapitel endlich ein Schlußstrich gezogen werden, und 1959 brachte die Washington Post einen Artikel, in dem es hieß: „So sehr auch die Gleichgültigkeit des deutschen Volkes (mit vielen ehrenvollen Ausnahmen) zu Hitlers Untaten beigetragen haben mag – man würde ein neues Unrecht schaffen und gefährliche Neurosen heraufbeschwören, wenn man 15 Jahre nach dem Ende der Tragödie immer noch an der Kollektivanklage festhalten wollte. Wenn alle Deutschen schuldig bleiben sollen, so sind alle Amerikaner für die Leiden von Hiroshima und die Unterdrückung der Indianer in weiter zurückliegenden Zeiten schuldig zu sprechen.“

Was kommt, wurde mir zum ersten Mal deutlich, als der IT-Fachmann sagte: „Dann ziehen Sie einfach den Stecker.“ Irgendwann am Ende des letzten Jahrhunderts begann jene Vereinfachung um sich zu greifen, die uns in bezug auf den Umgang mit Neuen Technologien selbstverständlich geworden ist. Wer erinnert noch, daß zum Umgang mit Computern einmal das Erlernen eigener Sprachen gehörte, dann die Kenntnis aller möglichen Tastaturkombinationen, heute im äußersten Fall das Berühren einer Bildschirmoberfläche. Ohne Zweifel ist die Menge denkbarer Fehler größer geworden, aber die Belastbarkeit der Systeme und ihre Narrensicherheit kompensieren das. Man kann das positiv werten, aber auch begreifen, daß der Abbau von Geschicklichkeit immer weiter fortschreitet, Lässigkeit oder Unkonzentriertheit um sich greifen, der gefährliche Gedanke dauernder und vollständiger Reversibilität aller Vorgänge jedem plausibel wird.

Bildungsbericht in loser Folge III: ICE, Großraumwagen, acht Plätze, je vier um einen Tisch, drei Erwachsene, fünf Kinder, drei Mädchen, zwei Jungen, drei Bücher, zwei Bildschirme.

Wenn man gegen die übliche Betrachtung die Entwicklung der Vergangenheitsbewältigung vor ’68 für ausschlaggebend hält, dann ist der symbolische Einschnitt am besten markiert mit der Ansprache des neuen Bundespräsidenten Heinrich Lübke bei der „Woche der Brüderlichkeit“ 1961, in der er die Kollektivschuld der Deutschen anerkannte, die sein Vorgänger Theodor Heuss noch ausdrücklich bestritten hatte.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint in zwei Wochen in der JF-Ausgabe 48/10.

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